double #47

Puppets of Color.
Postkoloniale und antirassistische Ansätze im Figurentheater

Heft 1/2023

Diskurs: Demontieren wir das Puppenheim!
Jubiläum: Wie hält es Stuttgart mit der Animation?


Editorial

In den 1940er-Jahren führte das US-amerikanische Psychologen-Ehepaar Dr. Mamie und Dr. Kenneth Clark für eine Studie über die Selbstwahrnehmung afroamerikanischer Kinder die später als „Doll-Tests“ bekannten Gespräche mit Kindergartenkindern. Sie hatten vier bis auf ihre Hautfarbe identische Puppen dabei und fragten die Kinder u. a., mit welcher Puppe sie gerne spielen würden, welche „nett“ aussähe und welche „böse“ und fragten zum Schluss, welche Puppe für die Kinder am meisten aussähe, wie sie selbst. Erschreckenderweise identifizierten die meisten Kinder die Schwarze Puppe als die böse, bevorzugten die weiße, erkannten sich selbst aber in der Schwarzen Puppe wieder. Bereits im frühen Kindesalter waren Rassismus und ein Minderwertigkeitsgefühl verinnerlicht worden. Die Tests der Studie, die später einen großen Anteil daran hatte, dass die Rassentrennung an US-amerikanischen Schulen aufgehoben wurde, haben leider heute noch, auch in Europa, ähnliche Ergebnisse. Natürlich sind Puppen nur ein Symptom, ein Teil eines von Rassismus geprägten, postkolonialen Systems. Dennoch zeigt dieses Experiment, dass auch das Figurentheater seinen Umgang mit Figuren und damit seinen Anteil an der Reproduktion rassistischer Stereotype reflektieren muss. Das fordern einige Künstler*innen und für die Gesamtgesellschaft viele Aktivist*innen schon seit Jahrzehnten – es ist, wie auch in der Restitutionsdebatte um kolonialen Kunstraub, irritierend zu sehen, wie lange daran gearbeitet wird und wie wenig sich verändert. Jenseits (oder wegen?) aller aufgeregten Debatten um vermeintliche „Cancel-Culture“ und übertriebene „political correctness“ bleibt das Grundproblem bestehen.

In diesem Heft sind Positionen von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen versammelt, die zum großen Teil am Werkstattwochenende „Demontage des Puppenheims“ teilgenommen haben, das im Februar 2023 als Kooperation von Münchner Stadtmuseum, Ballard Institute and Museum of Puppetry und dem Institut für Theaterwissenschaft der LMU München stattfand.

William Condee tauchte bei Besuchen in deutschen Puppentheatersammlungen tief ein in die Abbilder des „imaginierten Anderen“, die er dort fand. Jungmin Song präsentiert Gedanken zu der von ihr kuratierten Ausstellung über rassistische Stereotype und Puppentheater. Die Künstlerkollektive un.thai.tled und KMZ-Kollektiv reflektieren jeweils im Gespräch postkoloniale Ansätze in ihrer Arbeit. Ludomir Franczak hinterfragt die Rolle von Museums- und Theaterobjekten, während Paulette Richards die Kommunikation zwischen den Kulturen beleuchtet. Der Puppenbauer Atif Mohammed Nour Hussein erzählt, wie er versucht rassistischen Stereotypen durch „fiktionale Porträts“ zu entkommen und Tobi Poster-Su stellt seinen Ansatz einer „Critical Puppetry“ vor.

Direkt im Anschluss an den Thementeil wird das bereits erwähnte Werkstattwochenende näher beleuchtet. Zwei Ausstellungsbesuche berichten über Francesca Hummlers Fotoserie „Unsere Puppenstube“ – wovon ein Motiv unser Cover ziert – und über die Sensibilisierung für rassistisches Spielzeug am Spielzeugmuseum Nürnberg. Dem Puppenspieler Renaud Herbin, der die letzten zehn Jahre das TJP Centre Dramatique National de Strasbourg-Grand Est geleitet hat, wird ein Porträt gewidmet. Es folgen Berichte über die Festivals in Erfurt, Schwäbisch Gmünd, Berlin, Neuchâtel und Stuttgart. Dort feiern das FITZ und der Studiengang Figurentheater ihr 40-jähriges Jubiläum. Das Schweizer Fenster stellt Frida León Beraud, ausgezeichnet mit dem Schweizer Preis Darstellende Künste 2022, sowie Janna Mohr vor, die erste Puppenspielerin am Theater Orchester Biel Solothurn wird.

Eine anregende Lektüre wünschen

Mascha Erbelding und Annika Gloystein

Für das Heft haben wir uns für eine Markierung der Begriffe Schwarz und weiß entschieden, die aus der kritischen Weißseinsforschung stammt. Als politischer Identitätsbegriff wird Schwarz bewusst großgeschrieben. Das fungiert als typografischer Stolperstein. Ausgedrückt wird damit die Eigenbezeichnung all derjenigen, die zu Objekten von Rassismus konstruiert werden. In diesem Kontext wird weiß klein und kursiv geschrieben – weil weiße Menschen eben nicht zu Objekten von Rassismus konstruiert werden und ihre Hautfarbe gewöhnlich als „normal“ vorausgesetzt und nicht hervorgehoben wird.

Inhalt

Thema

Puppets of Color
Postkoloniale und antirassistische Ansätze im Figurentheater

  • William Condee
    „Blackface“-Puppen aus der deutschen Vorstellungswelt
    Gedanken zu einer möglichen Ausstellungspraxis
  • Jungmin Song
    Puppetry’s Racial Reckoning
    Über Puppenspiel und Repräsentation
  • Spiel der Komplexität
    Ein Gespräch mit Laia Ribera Cañénguez und Antonio Cerezo zu Materialtheater und kolonialen Kontinuitäten
  • Ludomir Franczak
    Nicht-Objekte
    Gedanken zu Museums- und Theaterobjekten ausgehend von der Performance „Gutta“
  • Unter der Oberfläche
    Der Puppenbauer Atif Mohammed Nour Hussein im Gespräch über fiktive Porträts
  • Paulette Richards
    Den Erwartungshorizont erweitern
    Brücken zur Kommunikation zwischen den Kulturen und zwischen den Spezies in „Aanika’s Elephants“
  • Defrosting Thai Culture
    Das interdisziplinäre Kollektiv un.thai.tled im Gespräch
  • Tobi Poster-Su
    Critical Puppetry
    Der persönliche Standpunkt von Puppenspieler*innen und die Konstruktion von „Race“ in „Chang and Eng and Me (and Me)“

Diskurs

  • Meike Wagner
    Demontieren wir das Puppenheim!
    Erfahrungen beim rassismuskritischen Werkstattwochenende in München

Ausstellung

  • Alexander Rudolfi
    Rahmen für Rahmen
    Francesca Hummlers Fotoserie „Unsere Puppenstube“
  • Herbert Heinzelmann
    Tanz der Stereotype
    Im Nürnberger Spielzeugmuseum wird auf das Thema Rassismus aufmerksam gemacht

Porträt

  • Bodo Birk
    Capitale de Corps, Objet, Image
    Die Ära von Renaud Herbin am TJP Centre Dramatique National in Straßburg

Next Generation

  • Lucas Boelter, Colin Danderski, Jule Saßmannshausen
    Intensive Teilhabe für den professionellen Nachwuchs
    Erstmals Stipendienprogramm für Studierende beim Weitblick Festival

Festival

  • Michael Helbing
    These, Antithese, Synergura
    Erfurts internationales Puppentheaterfestival feiert die Formenvielfalt
  • Leah Wewoda
    Schatten zwischen Zartheit und Kraft
    Ein Besuch auf dem 12. Internationalen Schattentheater Festival Schwäbisch Gmünd
  • Franziska Burger
    20. marionNEttes in Neuchâtel
    Jubiläumsausgabe feiert die beständige Veränderung
  • Katja Kollmann
    Wenn Streichhölzer weinen
    Das Festival Theater der Dinge sucht nach „Spuren der Verunsicherung“
  • Petra Mostbacher-Dix
    Beziehungsweise: Der Körper als Bühne
    Einblicke in die Imaginale 2023

Jubiläum

  • Annika Gloystein
    Wie hält es Stuttgart mit der Animation?
    Lecture Performances zum Geburtstag vom FITZ und dem Studiengang Figurentheater

Nachruf

  • Jörg Baesecke
    Das Leben ein Spiel
    Zum Tod von Susanne Forster (1941–2023)

Schweizer Fenster

  • Moritz Schönbrodt
    Welten wandeln
    Frida León Beraud im Porträt
  • In der Welt daheim, in der Schweiz zu Hause
    Janna Mohr wird erste Puppenspielerin am Theater Orchester Biel Solothurn

English Summaries   

Notizen/Festivalkalender

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