An die Substanz.
Material im Figurentheater
Heft 1/2022
Stippvisite: Speelgoedmuseum Deventer
Schweizer Fenster: Gespräch mit Chine Curchod
Überall herrscht Materialknappheit: Holz fehlt auf dem Bau, Chips in der Automobilindustrie. Überall? Nein! Im Figurentheater ist Material vorhanden – immer schon und in größter Vielfalt! Nicht nur, wenn es sich um „Materialtheater“ im engen Sinne handelt, bildet das Material die physische Grundlage jeder Inszenierung. Es wird ausgewählt, bearbeitet, mit anderen Materialien kombiniert und schließlich bespielt. Es wird vom Publikum wahrgenommen, das dann seine eigenen Materialerfahrungen im Rezeptions-Gepäck hat. Und nachdem es „abgespielt“ ist, muss es irgendwo hin. Das Material des Figurentheaters ist also ständig in Bewegung – auf der Bühne sowieso – aber auch davor und danach durchläuft es zahlreiche Transformationen. Die vorliegenden Texte nehmen diese immer wieder in den Blick (von roh zu bearbeitet, von intakt zu kaputt, von unbenutzt zu benutzt, von analog zu digital …) und illustrieren damit, wie reich die Lust am Material und seiner Erkundung das Figurentheater macht.
Kathi Loch startet mit den Grundlagen der Grundlagen, indem sie auf das Enstehen, Sein und Vergehen des Materials im Figurentheater schaut. Dazu passend liefert Astrid Schenka mit der Unterscheidung der Begriffe „Material“ und „Materialität“ ein wertvolles Analyse-Werkzeug – auch um die eigene Materialwahrnehmung im Theater zu schärfen. Von der Theorie zur Praxis führt ein
Fragebogen, in dem die Puppenbauer Rainer Schicktanz und Florian Loycke ihre – äußerst unterschiedlichen – Lieblingswerkstoffe vor- und gegenüberstellen: Holz und Schaumstoff. Über ein auf der (Figurentheater-)Bühne eher ungewöhnliches Material – nämlich Glas – berichtet Annika Gloystein anhand gleich zweier Projekte und kommt dabei den Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Fragilität auf die Spur. Weitere sehr besondere Materialien lernen wir aus Künstler*innen-Perspektive kennen: das Eis, mit dem Élise Vigneron sich immer wieder auseinandersetzt, und den Lehm, an dem Simon Wauters sich in einer Inszenierung
intensiv abarbeitete. Dass die Erforschung des Materials gerade für die allerkleinsten Zuschauer*innen einen spannenden Zugang zum Theater birgt, belegt Christiane Plank-Baldauf durch einen Workshop-Bericht. Und natürlich darf auch der Aspekt des Digitalen nicht fehlen: Alice Therese Gottschalk verrät, wie sich Figuren (per 3D-Drucker) aus dem Digitalen heraus materialisieren, Mario Kliewer, wie analoge Materialien zum Zwecke der (musealen) Vermittlung digitalisiert werden. Zwei Beiträge, die sich mit dem „Nachleben“ des Materials befassen, kommen von Frank Soehnle, der beweist, dass benutztes Material mit viel Erkenntnisgewinn reaktiviert
und -animiert werden kann, sowie von den drei Expertinnen, die sich mit Meike Wagner zum Gespräch trafen: Sie erzählen aus den Lübecker, Münchner und Dresdner Puppentheatersammlungen, wie dort um die Konservierung des Materials gerungen wird.
Der zweite Teil des Hefts startet mit zwei Texten im französischen Original, in denen Pierre Meunier seine herausfordernde Arbeit mit einem Steinhaufen poetisch reflektiert. Bei der Tagung „PuppetPlays” bildeten Puppenspieltexte das Diskussionsmaterial, während bei der dezentralen Konferenz „Extend it!“ mit Online-Formaten experimentiert wurde. Darüber hinaus führen uns
die Autor*innen ins Spielzeugmuseum nach Deventer, denken über die paradoxe Animation von Tierpräparaten nach und schauen auf Rafi Martins gewichtvolle neue Soloperformance, die jüngst in Stuttgart Premiere hatte. Es werden verschiedene Dimensionen eines nachhaltigen Figurentheaters diskutiert, und das Schweizer Fenster überwindet erstmals den „Röstigraben“. Das Heft enthält außerdem einen Nachruf auf den nach schwerer Krankheit verstorbenen Künstler Joachim Torbahn, dessen visuell-fantasievolle „Maltheater“-Arbeiten in Erinnerung bleiben werden.
Einen anregenden Blick auf die handfesten „Basics“ des Figurentheaters wünschen
Kathi Loch, Christina Röfer und Meike Wagner
Thema
An die Substanz.
Material im Figurentheater
- Kathi Loch
Entstehen, Sein, Vergehen
Eine Begleitung des Materials auf seinem theatralen Werdegang - Astrid Schenka
Über den Eigensinn der Objekte sprechen
Material vs. Materialitat - Rainer Schicktanz, Florian Loycke
Leichtes Holz und unschlagbarer Schaumstoff
Puppenbauer über ihre Lieblingsmaterialien - Annika Gloystein
Das Spiel mit stehen gebliebener Flussigkeit
Über den Einsatz von Marionetten aus Glas bei Wael Shawky und dem Puppentheater Ljubljana - Elise Vigneron
„Dieses Material erschopft sich nie“
Theaterarbeit mit Eis - Christiane Plank-Baldauf
Von tonendem Rascheln und tanzender Stille
Klangerkundung mit Kita-Kindern - Mario Kliewer
Realitatseffekte
Materialien im imaginaren Museum Puppets 4.0 und in einer digitalen Theatrum mundi-Auffuhrung - Frank Soehnle
Material als Zeitreise
Zwei Stücke für vergessene Figuren - Simon Wauters
Die Resonanz zwischen dem dunklen Text und dem lebendigen Material
Lehm – Erde – Asche als theatrale Allegorien - Alice Therese Gottschalk
Beliebig reproduzierbar
Figurenbauexperimente mit dem 3D-Drucker - Gegen die Endlichkeit anarbeiten
Ein Gespräch mit Sabine Princ, Ines Handel und Antonia Napp über Puppenmaterial und Restaurierung
Essai en français
- Pierre Meunier
„Le silence du tas“ & „Interview imaginaire“
Zwei poetische Texte
Diskurs
- Mascha Erbelding
Les pieces echappees du feu
Das Kolloqium „Literary writing for puppets and marionettes in Western Europe“ in Montpellier - Annika Gloystein
Wir üben uns im Fragen stellen
Eindrucke von „Extend it! – Dezentrale Konferenz zum Jetzt und Morgen des Figurentheaters“
Festival
- Anke Meyer
Etappenziel: Festivalerlebnis
Wochenendbesuche in Erlangen und Magdeburg - Christina Rofer
Formenvielfalt und Spielfreude
Zur 47. Verleihung des Fritz-Wortelmann-Preises
Stippvisite
- Tuur Devens
Spielzeug fur deine Fantasie
Die interaktive Installation des TAMTAM objektentheater im Speelgoedmuseum Deventer
Inszenierung
- Anke Meyer
Toten Tieren das Leben retten
Das Puppentheater Ljubljana zeigt „Still Life“ beim Festival Theater der Dinge in Berlin - Brigitte Jahnigen
Die Verlagerung von Gewicht(ungen)
Rafi Martins „The ceremony of weight“ in Stuttgart
Seitenblick
- Wachrütteln
Tim Sandweg und Rebecca Gonter im Gespräch über Nachhaltigkeit im Figurentheater
Nachruf
- Michael Bader
Thalias Kompagnons haben einen Kumpan verloren
Zum Tod von Joachim Torbahn (1962–2021)
Schweizer Fenster
- Mit der Marionette über Grenzen hinweg
Ein Gespräch mit Chine Curchod
English Summaries
Notizen/Festivalkalender
Impressum
Hier können Sie double #45 im TDZ-Online-Shop kaufen.
CONTENTS double 45:
A matter of substance.
Material in Figure Theatre
- Kathi Loch
Becoming, being, ceasing
An accompaniment of the material on its theatrical career - Astrid Schenka
Talking about the intrinsic individuality of objects
Material versus Materiality - Rainer Schicktanz, Florian Loycke
The lightness of wood or unrivalled foam
Puppet-makers on their favourite materials - Annika Gloystein
Performing with solidified liquid
The use of glass marionettes by Wael Shawky and at the Ljubljana Puppet Theatre - Elise Vigneron
“This material never runs out”
Working with ice - Christiane Plank-Baldauf
The sounds of rustling and dancing silence
Exploring sounds with kindergarten children - Mario Kliewer
Reality effects
Materials in the imaginary museum “Puppets 4.0” and a digital Theatrum mundi show - Frank Soehnle
Material as a journey back in time
Two shows for forgotten puppets - Simon Wauters
The resonance between a sombre text and living material
Clay, earth and ash as theatrical allegories - Alice Therese Gottschalk
Arbitrarily reproducible
Experiments on making puppets with a 3D printer - Working towards eternity
An interview with Sabine Princ, Ines Handel and Antonia Napp on puppet material and restoration
ESSAI EN FRANCAIS
- Pierre Meunier
“Le silence du tas” & “Interview imaginaire”
Two poetic texts
DISCOURSE
- Mascha Erbelding
Les pieces echappees du feu
The colloquium “Literary writing for puppets and marionettes in Western Europe” in Montpellier - Annika Gloystein
Practising asking questions
Impressions from “Extend it! – Decentralised conference on the now and tomorrow of figure theatre”
FESTIVAL
- Anke Meyer
Stage destination: Festival experiences
Weekend visits in Erlangen and Magdeburg - Christina Röfer
Diversity of form and playfulness
On the 47th awarding of the Fritz Wortelmann Prize
FLYINGVISIT
- Tuur Devens
Playthings for your fantasy
The interactive installation of the TAMTAM object theatre in the Deventer Toy Museum
STAGING
- Anke Meyer
Saving the lives of dead creatures
The Ljubljana Puppet Theatre presentation of “Still Life” at the Theater der Dinge festival in Berlin - Brigitte Jahnigen
Shifting the balance(s)
Rafi Martin’s “The ceremony of weight” in Stuttgart
SIDEGLANCE
- Sit up and take note
Tim Sandweg and Rebecca Gonter discuss on sustainability in figure theatre
OBITUARY
- Michael Bader
Thalias Kompagnons have lost a comrade
On the death of Joachim Torbahn (1962–2021)
SWISS WINDOW
- Crossing borders with puppets
An interview with Chine Curchod
Summary EDITORIAL
The physical basis of every puppet theatre production is its material. It is selected, processed, combined with other materials and finally performed. During the performance, an audience perceives it and has its own material experiences in its receptive baggage. And after it has been “played”, it has to go somewhere. The material of puppet theatre is therefore constantly in motion – on stage at any rate – but even before and after, it often undergoes numerous transformations. The texts in this issue repeatedly reveal thesetransformations (from unworked to processed, from intact to broken, from unused to used, from analogue to digital, …) and thus illustrate the extent to which the desire for material and its exploration enriches puppet theatre.