Posttraumatisches Theater?
Trauma, Therapie & Figurentheater
Heft 2/2017
Festivals: Erlangen, Hamm, Jerusalem
Werkschau: Mette Ingvartsen
Theater und Therapie im 21. Jahrhundert seien wie „distanzierte Geschwister“, so der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat. Obwohl viele Theaterprojekte der Avantgarde im 20. Jahrhundert in therapeutischer Absicht auf gesellschaftliche Krisen Bezug genommen hätten, herrsche nach wie vor große Skepsis auf beiden Seiten. Theater und Therapie seien nur in dem Falle „miteinander verträglich“, wenn weder die Autonomie der Kunst noch das Verfahren und das Instrumentarium der Therapie absolut gesetzt würden. In den letzten Jahren lässt sich jedoch eine Annäherung dieser beiden so gern antagonistisch gesehenen Verwandten vor dem Hintergrund individueller wie gesellschaftlicher Krisen ausmachen. Eine Ausdifferenzierung psychosomatischer Krankheitsbilder, ein steigender Bedarf an Therapieangeboten sowie die Notwendigkeit von Trauma-Arbeit angesichts weltweiter Kriegseinsätze und Migrationsbewegungen sind zu verzeichnen. Und auch das Theater bedient sich – in Anbetracht der jüngsten gesellschaftlichen Krisenerscheinungen – diverser Spielarten, die im Gegensatz zum postdramatischen Diktum der „Desorientierung“ und des Widerstands die ästhetische Autonomie in Frage stellen und nach Moral, Engagement und Lösungen suchen. Kann das postdramatische Theater von posttraumatischen Aufarbeitungsformaten lernen?
Der Thementeil dieser double-Ausgabe nimmt verschiedene Spielarten der Annäherung therapeutischer und theatraler Formen im Bereich des zeitgenössischen Puppen-, Figuren- und Objekttheaters in den Blick. Auf ein Interview zu Historie und theatralen Aspekten der Psychotherapie folgen Reflexionen über mögliche Repräsentationsformen von Genoziden und gesellschaftlichen Traumata wie Euthanasie oder Flucht. Einem Einblick in die Praxis des therapeutischen Figurenspiels stehen die Ansätze verschiedener Künstlerinnen und Künstler gegenüber, die Aspekte des Heilens ins Zentrum ihrer Arbeit stellen – von psychomagischen und objektbasierten Heilritualen bis hin zur theatralen Simulation psychischer Krankheitsbilder.
Im zweiten Teil des Heftes unternehmen die Autorinnen und Autoren Ausflüge zu Festivals nach Erlangen, Hamm und Jerusalem und in die französische Figurentheaterszene. Die vorgestellten Inszenierungen geben jeweils auf eigene Weise Einblicke in prekäre, mitunter traumatische Lebensumstände und deren Hintergründe. Darüber hinaus blickt diese Ausgabe zurück auf die Werkschau von Mette Ingvartsen am HAU und die avantgardistischen Marionetten der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, beleuchtet die Debatten am Puppentheater Magdeburg über die kulturpolitische Landschaft in Deutschland und berichtet vom double-Diskurs in Erlangen, der die potenzielle Zeitgenossenschaft der Puppe befragte.
Eine anregende und heilsame Lektüre wünschen
Michael Isenberg, Christina Röfer und Almut Wedekind
THEMA
Posttraumatisches Theater? Trauma, Therapie und Figurentheater
- Die Entdeckung des Selbst
Jens Elberfeld und Michael Isenberg im Gespräch über theatrale Aspekte von Therapie - Psychomagie
Theater als Anwendung
Stefanie Oberhoff - Tod im Leben
Traumatisierungen nach einem Genozid – Gedanken zur Repräsentation
Seta-E. Guetsoyan - Was ist damals hier geschehen?
Über heilendes Theater und die Aufarbeitung gesellschaftlicher Traumata
Crischa Ohler - Simulierte Patienten
Die Gruppe Einmaliges Gastspiel verhandelt „PSYCHIATRIE!“ und „TRAUMA!“ zwischen Klinik und Theater
Hagnot Elischka - Spielend sich befreien
Über das therapeutische Spielen mit Handpuppen
Almut Wedekind - Der nährende Blick
Über das Maskenspiel mit Geflüchteten
Marianne Cornil - Dealing with Healing
Ivo Dimchev im Interview über seine Performance „I-Cure“
Michael Franz Woels
FESTIVAL
- Universum der Veränderungen
Eindrücke vom 20. Internationalen figuren.theater.festival Erlangen/Nürnberg/Fürth/Schwabach
Katja Spiess & Gertraud Johne - Irritationen in Jerusalem
Blicke auf israelische Produktionen beim internationalen Puppentheaterfestival
Anke Meyer - Anders hinsehen
Schlaglichter auf das hellwach-Festival in Hamm
Christina Röfer
INSZENIERUNG
- Radikaler Perspektivwechsel
Das Puppentheater Gera zeigt „Verbrechen” nach Ferdinand von Schirach
Jessica Hölzl - Mattos Puppentheater
„Matto regiert“ von Dakar Produktion im Theater Stadelhofen
Mascha Erbelding - Broke but not broken
Puppenspiel trifft auf Hip-Hop in „The Broke ‘N’ Beat Collective“
Christina Röfer
WERKSCHAU
- Kunstvolle Naturschauspiele einer Landschaftschoreografin
Zur Werkschau von Mette Ingvartsen am HAU
Annika Gloystein
DISKURS
- Es reicht nicht, immer nur dagegen zu sein!
Kulturpolitische Debatten am Puppentheater Magdeburg
Stephanie Preuß - Die Puppe als Zeitgenosse?
double-Diskurs zu aktuellen Entwicklungen des Genres
Franziska Burger
POLITIK
- Figurentheater in Frankreich: eine Bestandsaufnahme
Lucile Bodson
FORSCHUNG
- Marionetten in Sophie Taeuber-Arps Briefen
Einblicke in ein Editionsprojekt an der ZhdK
Medea Hoch, Walburga Krupp, Sigrid Schade
PUBLIKATION
- Zürich hin und zurück
Das Museum für Gestaltung Zürich stellt seine Theaterfiguren vor
Manfred Wegner
Notizen & Festivalkalender
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Summary
The theme section of this edition of double looks at interfaces between the distantly related disciplines of theatre and therapy. Thoughts on representation forms in figure and object theatre that might be able to deal with genocide and social trauma like euthanasia and flight, are contrasted with a report on the practice of therapeutic puppetry, and approaches taken by a variety of artists who centre their work on aspects of healing. In addition some of the productions reviewed in the magazine give readers insights into precarious and occasionally traumatic living conditions and their backgrounds. Can post-dramatic theatre learn from post-traumatic treatment formats?
CONTENTS double 36
EDITORIAL
THEME
Post-traumatic Theatre. Trauma, therapy and figure theatre
- Jens Elberfeld/Michael Isenberg
The discovery of self. A conversation on theatrical aspects of therapy. - Stefanie Oberhoff
Psychomagic. Theatre as an application - Seta-E. Guetsoyan
Death in life. Traumatisations after genocide – thoughts on representation - Crischa Ohler
What was once going on here? On healing theatre and the reappraisal of social traumas - Hagnot Elischka
Simulated Patients. The group “Einmaliges Gastspiel” deals with “Psychatry!” and “Trauma!” between hospitals and theatre - Almut Wedekind
Self liberation through play. On therapeutic puppetry - Marianne Cornil
The nourishing look. On mask play with refugees - Michael Franz Woels
Dealing with Healing. An interview with Ivo Dimchev on his performance “I-Cure”
FESTIVAL
- Katja Spiess, Gertraud Johne
A Universe of changes. Impressions from the 20. international figure theatre festival in Erlangen/Nürnberg/Fürth/Schwabach - Anke Meyer
Irritations in Jerusalem. A look at Israeli productions at the international puppet theatre festival - Christina Röfer
Looking in a different way. Impressions from the “hellwach” festival in Hamm
PRODUCTIONS
- Jessica Hölzl
A radical change of perspective. The Gera puppet theatre presents “Verbrechen” (Crimes) based on stories by Ferdinand von Schirach. - Mascha Erbelding
Matto’s puppet theatre. “Matto rules“ by Dakar Produktion in the Theater Stadelhofen - Christina Röfer
Broke but not broken. Puppetry meets Hip-Hop in “The Broke ‘N’ Beat Collective”
SHOWCASE
- Annika Gloystein
The artistic natural spectacles of a landscape choreographer. On Mette Ingvartsen’s work exhibition at the HAU
DEBATES
- Stephanie Preuß
Constant opposition is not enough! Cultural policy debates at the Magdeburg Puppet Theatre - Franziska Burger
The puppet as contemporary? Observations on current developments in the genre in the Erlangen double debate
POLITICS
- Lucile Bodson
Figure theatre in France: a survey
RESEARCH
- Medea Hoch/Walburga Krupp/Sigrid Schade
Marionettes in Sophie Taeuber-Arp’s Letters. Insights into an editorial project at the ZHdK Institute for Cultural Studies in the Arts
PUBLICATION
- Manfred Wegner
Zürich there and back. The Zürich “Museum für Gestaltung” presents its theatre figures in the form of a publication.