double #32

Theaterprobe als Möglichkeitsraum

Heft 2/2015

Festivals: Erlangen/Nürnberg/Fürth; Charleville-Mézières
Stippvisite: Rumänien


Editorial

“Sometimes I film my drawings or make a theater production. But the process is still like drawing. If someone would ask me “How would you do X?”, I havn’t got a clue. The answer comes from the physical activity on paper. It’s working from the center outward.” (Der südafrikanische Künstler William Kentridge in einem Interview in der New York Times, 29.02.04)

Hier geht es um eine künstlerische Arbeitsweise, die dem Verständnis von Theaterprobe im 19. Jahrhundert wahrscheinlich sehr fremd war: aus der Intuition schöpfen, ohne Textvorlage, womöglich Szenisches aus vager bildnerischer Imagination entwickeln, aus der Bewegung, aus Rhythmen oder zufälligen Umständen – und gar aus technischen Unzulänglichkeiten Konfliktstoff exzerpieren. Das mochte man vielleicht dem Puppentheater als kindlich apostophierter Kunst zugestehen, wie Christoph Lepschy in seinem Beitrag zu Goethes Theaterroman „Wilhelm Meister“ zeigt. Die Vorbereitung einer Schauspielaufführung hingegen konzentrierte sich ganz auf das Memorieren und Deklamieren des Textes.Heute konstituiert sich die Auffassung von der Probe als Möglichkeitsraum und behauptet gegenüber der schlussendlich entstehenden Produktion einen Eigenwert der künstlerischen Entwicklungsprozesse. Das zeitgenössische Puppen- und Objekttheater findet gerade über sein Verständnis von Probe als ergebnisoffenes – meist auch bildgestalterisches – Versuchlsabor, wie es Markus Joss beschreibt, zu oft überraschenden Darstellungslösungen. Dabei stößt es allerdings im Rahmen etabalierter Theaterstrukturen (Schauspielhäuser) teilweise an Grenzen, die u.a. durch festgeschriebene Probenabläufe und Zeitfenster gezogen werden.

Weitergehende Öffnungen der Probensituation auf die Vorstellung hin und umgekehrt, der bewusst erzeugte Mangel an Sicherheit auf der Bühne, der dem Zufall auch in hoch formale und durchkomponierte Inszenierungen Einlass gewährt, werden im Gespräch mit der Regisseurin Gisèle Vienne ebenso thematisiert wie im Beitrag der Performerin Eva Plischke. Grundsätzliche Überlegungen zur Probe als energetischen Prozess stellen Meike Wagner und Wolf-Dieter Ernst an. Einen Einblick in besondere Probenbedingungen, die schöpferische Energien befördern, gibt Silvia Brendenals Bericht über eine Künstlerresidenz auf den Lofoten. Und in Heiki Ikkolas Reflektionen über die Arbeit an „Ruanda Memory“ rückt auch die Problematik des künstlerischen Umgangs mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen in den Blick: mit der Gemengelage von Gewalt, Flucht, Schuld und eigener Verstrickung.

Der den Thementeil abschließende Bericht über die Arbeitsweisen des internationalen Studierendentreffens in Straßburg schlägt einen Bogen zum französichsprachigen Essay (beide befassen sich mit dem Komplex Körper-Objekt-Bild) und auch zur Rubrik „Next Generation“, in der es um Experimentierlust der Nachwuchskünstler und konzeptionelle Tendenzen geht. Die Stippvisite führt dieses Mal in die rumänische Puppentheaterszene und gejubelt wird in Leipzig – wo der Westflügel seit nunmehr zehn Jahren als Produktionszentrum für Figurentheater reüssiert.

Anke Meyer und Katja Spiess

Underwatersolargrau. Diese Ausgabe von double wird von Arbeiten der Künstlerin Sabine Wassermann begleitet.
Sie experimentiert mit assemblageartigen Kompositionen, die fotografiert und digital bearbeitet werden.

Inhalt

Theaterprobe als Möglichkeitsraum

  • Erste Begegnungen
    Über Probenanfänge
    von Christoph Lepschy
  • Schrecken auf Probe
    Veronika Darian im Gespräch mit der Regisseurin Gisèle Vienne
    von Gisèle Vienne und Veronika Darian
  • Sollbruchstellen
    Zur Spezifik der Produktionsweisen im Theater der Dinge
    von Markus Joss
  • Womit anfangen? Und wie?
    Zur Entstehung von „Ruanda-Memory. Eine Geschichte in neun Objekten“ der Cie. Freaks und Fremde
    von Heiki Ikkola
  • Erneuerbare Energien
    Energetische Prozesse in der Probenarbeit
    von Wolf-Dieter Ernst und Meike Wagner
  • Probenparadies am Ende der Welt
    Produktionsresidenzen des Nordland Visual Theatre auf den Lofoten (NO)
    von Silvia Brendenal
  • Nachjustieren und nochmal von vorn beginnen
    Franziska Burger spricht mit Mariaus Kob über die Proben zu „Frankenstein“ am Schauspielhaus Basel
    von Franziska Burger und Marius Kob
  • Was wir erproben, wenn wir proben
    Gedanken über das Außerhalb und Jenseits der Theaterprobe
    von Eva Plischke
  • Platz dem Forschen und Experimentieren!
    Rencontres Internationales Corps_Objet_Image in Straßburg
    von Tanja Höhne

Essay en Français

  • Corps, Objet, Image. Ceci est une question
    von Alice Godfroy

Festivals

  • Lust an der Verunsicherung
    Das 19. internationale Figurentheater-Festival in Erlangen, Nürnberg und Fürth
    von Christina Röfer
  • Vielfalt oder Fülle?
    Betrachtungen zum Festival Mondial des Théâtres de Marionnettes in Charleville-Mézières
    von Tim Sandweg

Stippvisite: Rumänien

  • Den Blick öffnen
    Beobachtungen zu Schauspiel und Figurentheater in Rumänien
    von Thomas Lang

Jubeln

  • Künstlerisches Wuchern im Westflügel
    Jubiläum und neue Inszenierung in Leipzig
    von Tobias Prüwer

Inszenierungen

  • Doppelbödige Nummernrevue der Pathologien
    Gisèle Vienne und Puppentheater Halle: „Das Bauchrednertreffen“
    von Veronika Darian
  • Der große Schmerz im kleinen Leben
    „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ von den flunker produktionen in der Schaubude Berlin
    von Katja Spiess
  • Überleben im Verlies aus Klischees
    „Survival Women“ im Marotte Figurentheater Karlsruhe
    von Gerrit Münster

Seitenblick

  • Just Pixels?
    Kurzbesuch auf zwei Film-Festivals in Oberhausen und Stuttgart
    von Anke Meyer

Next Generation

  • Achtung, laufendes Experiment!
    Die Stuttgarter NEWZ zeigen junges Figurentheater
    von Julia Feigl
  • In bester Begleitung
    „Versuchung Nr. 6“ mit jungem Puppen-, Figuren- und Objekttheater in der Schaubude Berlin
    von Johannes Gruhl

Notizen

Übersetzung

Deutsche Version des Essay en française „Corps, Objet, Image. Ceci est une question“
double 32, Heft 2/2015, Seite 30/31

Körper, Objekt, Bild. Eine Fragestellung

Alice Godfroy

Körper, Objekt, Bild: Drei Worte, drei offene Begriffe, die sich miteinander verbinden, um unseren Blick auf das zeitgenössische Figurentheater erneut zu hinterfragen.
Drei grundlegende Komponenten all jener szenischen Schöpfungen, die auf die eine oder andere Weise eine spezifische Beziehung mit Objekten eingehen; vom formlosesten Material bis hin zu den figurativsten Objekten. Eine Art ABC, reich darin, arm zu sein, das keine bestimmte Ästhetik voraussetzt, sondern alle potenziell einschließt, indem es ihnen eine gemeinsame Minimalsprache ermöglicht.
Drei Schlüsselbegriffe, die kein Interpretationsraster festsetzen wollen. Im Gegenteil, sie laden dazu ein, die Grenzen zwischen den Künsten zu verschieben, zusammenzuführen, was die Diskurse getrennt zu halten suchen. Sie wollen ein Bewusstsein, eine Sprache schaffen für diese neuen ästhetischen Landschaften, die aktuelle Inszenierungen vor unseren Augen errichten – und die meist nur unter Schwierigkeiten in bereits vorhandene Rahmen ‘einzupassen’ sind.

Es geht nicht darum, mit diesen drei mehrdeutigen ‘Schimpfworten’ – getränkt mit Unausgesprochenem, schillernd von Mehrdeutigkeit – abzurechnen, indem man versucht, sie einzugrenzen, sich ihrer Definition zu nähern. Diese Trias stellt keine Norm dar: Sie versucht weniger, den Sinn der Worte festzulegen, der sie konstituiert, als vielmehr sich zwischen ihnen anzusiedeln, direkt auf den vielfältigen Beziehungen, die sich zwischen ihnen bilden, direkt auf den Positionen des Zwischenbereichs, die Künstler und Zuschauer vorläufig annehmen: zwischen Körper und Objekt, zwischen Objekt und Bild, zwischen Bild und Körper. Sich ständig wandelnde, nicht einzuordnende, rastlose Positionen, die das dem Figurentheater eigene Handeln ausmachen.

Das COI – Körper-Objekt-Bild (frz. Corps-Objet-Image) – ist gewiss vor allem eine Frage, um die sich die Suche der Figurenspieler dreht, aber ebenso sehr die Suche einiger Schauspieler, Tänzer, Performer, Bühnenbildner, Videokünstler, Plastiker, Architekten, etc. Warum?
Das Objekt hinterfragt den Körper. Der Körper hinterfragt das Objekt. Die Geschichte des Figurentheaters hat in dieser Begegnung häufig eine Ausrichtung bevorzugt: das Objekt zu ‚verkörperlichen‘, ihm eine körperliche Beschaffenheit zu verleihen, in ihm einen geheimnisvollen Doppelgänger des Menschen zu erschaffen, – wie Pygmalion in seinem Streben, das Leblose lebendig zu machen. Es gibt zahlreiche Künstler, die diese Richtung heute weiterführen und ihre virtuose Kunst in den Dienst der Theaterillusion stellen, der Reaktivierung der konkreten und poetischen Verbindung mit der Materie oder einer Befragung der Figuren des Doppelgängers – Spiegel unserer fleischlichen Hüllen.

Die Erforschung der entgegengesetzten Ausrichtung ist dazu komplementär: Der Versuch, den Körper zu objektivieren, ihn dank/wegen/anhand des Objekts zu vergegenständlichen. In diesem Kontext greift das Objekt ein, um die neuen Grenzen des Menschlichen zu hinterfragen, um die Beschränkungen des Körpers an sich und jene der Intersubjektivität neu festzulegen. Dazu gehört beispielsweise die künstlerische Forschung zum Waren-Körper (überbelichtet, hypererotisiert, übergesund – und dennoch überall abwesend), zum Körper im Niedergang (alternd, krank, sterbend), zum gestürzten, deklassierten Körper sowie zum zerstückelten, prothetischen, künstlichen, virtuellen Körper unserer Biotechnologien. Es gibt genau so viele Modalitäten des Objekt-werdenden Körpers wie die Bühne befragt.
Bei beiden Richtungen wird die Beziehung zwischen Körper und Objekt erhellt, die die Trennlinie zwischen belebt/unbelebt verschiebt, und es bieten sich somit neue Werkzeuge für eine Definition des Lebendigen und der Metamorphosen seiner Identität. Über die einfache Mimesis hinausgehend, lösen sich das als lebendig wahrgenommene Objekt und der von der Materie ins Wanken gebrachte Körper von der alltäglichen Zeit und dem alltäglichen Raum – sie werden symbolische Darstellung und fantasmatische Schöpfung.
Die Darstellung des Körpers – autorisiert durch seine Beziehung zum Objekt, zur Materie, zur Puppe – verwandelt ihn in ein Bild. Diese Körper-Objekt-Beziehung re-präsentiert den abwesenden, maskierten oder fragmentierten Körper. Als Medium agierend, verschafft sie ihm eine neue Präsenz. Wie andere Simulakren der materiellen Geschichte der Bilder sendet sie dem Menschen ein Bild zurück, in dem er sich wiedererkennen kann. Ein dargestellter Körper also, der durch zumindest teilweise Verschleierung fähig geworden ist, sich zu fragmentieren und sich frei nach Wunsch neu zusammenzusetzen, ein eingeschränkter Körper statt eines erweiterten Körpers, ein hybrider Körper mit zahlreichen Gesichtern. Die Augen verengen sich vor dem Bild des Unbestimmten. Die Form entfernt sich also vom Formellen und vom Erwarteten. Sie löst sich auf ohne Unterlass und rekonfiguriert sich mit neuen Zügen. Sie überschreitet ihre eigenen Umrisse und bietet ein beunruhigendes und subversives Bild.
Es lässt sich hier keine Startlinie herauslesen, sondern ausschließlich Modi der Beziehung Körper- Objekt-Bild, die sich erfinden und die, instabiler als je zuvor, spielerisch ineinanderstürzen. Es bleibt nur die Idee eines großen Spektrums an Möglichkeiten, die zumeist nichts anderes versuchen, als die Positionen zwischen diesen drei Bestandteilen der Aufführung zu destabilisieren.
Dieser COI-Ansatz ergibt sich aus dem zeitgenössischen Horizont des Figurentheaters und macht seine neue Eigenart bewusst. Über die rein darstellende Dimension dieser Kunst, über den reinen Kunstgriff der Mimesis, über die rein semantische, also sprachliche Dimension der Puppe hinaus sind wir sensibel geworden für alle anderen Dinge. Wir suchen Virtuosität nicht mehr nur in der Manipulation der Objekte. Wir erwarten dagegen vom Objekt, dass es unseren Körper, seinen Zustand, seine Erfahrungen und seine Möglichkeiten erneut überprüft. Wir befinden uns gerade in einem Kontext der Dekonstruktion der Künste im Allgemeinen, und der Puppe im Besonderen. Genau hier bietet sich die Frage nach COI, nach Körper-Objekt-Bild, als Alternative zu einem traditionellen Diskurs. Durch ihre unterschwellige Geste der Verschiebung kann sie vielleicht einen Weg in die Zukunft weisen …

Aus dem Französischen von Anna Wieland / Mascha Erbelding / Meike Wagner

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English

SUMMARY

Creating from intuition, movement, rhythm and fortuitous circumstances without the aid of a previously written text; even extracting dramatic conflicts from the technical inadequacies of mechanical protagonists… In the eighteenth century we might possibly have conceded some of these factors to puppet theatre when it was in its baby shoes. By contrast preparations for a theatre play were concentrated completely on memorising and declaiming a literary text, as is clear from our lead article on Goethe’s theatre novel “Wilhelm Meister“. The thematic section of “double” deals with the changing concepts of rehearsal work and its related energy processes; with rehearsals as a place for exploring potentialities and asserting one’s own values in the process of artistic development over against the “finished” production. It is also about how open-ended rehearsals in contemporary puppet and object theatre often result in surprising performative solutions.

CONTENTS double 32

EDITORIAL

THEME
Rehearsals as a Place of Potentialities

  • Christoph Lepschy
    First Encounters. On the Start of Rehearsals
  • Horror on trial.
    Gisèle Vienne in conversation with Veronika Darian
  • Markus Joss
    Predetermined Breaking Points. On the specifics of production methods in the theatre of objects
  • Heiki Ikkola
    What to begin with? And how? On the creation of a “Rwanda-Memory” by the “Freaks und Fremde” Company
  • Wolf-Dieter Ernst & Meike Wagner
    Renewable Energies. Energetic Processes in Rehearsal Work
  • Silvia Brendenal
    A Rehearsal Paradise at the End of the World. A production residency at the Nordland Visual Theatre on Lofoten (Norway)
  • Readjust and start again from the top
    Conversation with Marius Kob on the rehearsals for “Frankenstein” at the Schauspielhaus Basel
  • Eva Plischke
    What do we rehearse when we rehearse? Thoughts on things that happen outside and beyond rehearsals
  • Tanja Höhne
    Room for Research and Experiment!

FESTIVALS

  • Christina Röfer
    The pleasures of disconcertion. The 19th international puppet theatre festival in Erlangen, Nürnberg and Fürth
  • Tim Sandweg
    Diversity or abundance? Observations on the Festival Mondial des Théâtres de Marionnettes in Charleville-Mézières
  • Thomas Lang
    Opening up vistas. Observations on acting and puppet theatre in Romania

CELEBRATE

  • Tobias Prüwer
    Artistic proliferation in the Westflügel. A jubilee and a new production in Leipzig

PRODUCTIONS

  • Veronika Darian
    An ambiguous review of pathologies. Gisèle Vienne and the puppet theatre in Halle: “The Ventriloquists Convention”
  • Katja Spiess
    Great pain in a small life “Mother Krausen’s Journey into Happiness” by flunker productions in the Schaubude, Berlin
  • Gerrit Münster
    Surviving in the dungeon of cliches. “Survival Women” in the Marotte Figurentheater Karlsruhe

GLANCING SIDEWAYS

  • Anke Meyer
    Just Pixels? A brief visit to film festivals in Oberhausen and Stuttgart

NEXT GENERATION

  • Julia Feigl
    Careful! Experiment in progress! The Stuttgart NEWZ shows recent figure theatre
  • Johannes Gruhl
    In ideal company. “Versuchung No. 6” with recent puppet, figure and object theatre in the Schaubude Berlin