Am Ende des Fadens…?
Heinrich von Kleists „Über das Marionettentheater“ wiedergelesen
Heft 2/2012
Essay: Points critics (Brunella Eruli)
Stippvisite: Iran
Im Kleistjahr 2011 wurde in diversen Publikationen und Veranstaltungen über die Aktualität der Texte von Heinrich von Kleist nachgedacht, u.a. auch auf einem kleinen Symposium im Rahmen des internationalen Figurentheaterfestivals in München im Herbst 2011, bei dem ein Teil der in diesem Heft abgedruckten Texte erstmals vorgestellt wurde. Kleist berührt, inspiriert, provoziert heute noch, so der Germanist Justus Fetscher, weil wir bei ihm einen Sinn für das Grenzwertige, für das Umschlagen legaler in illegale
Handlungen, für das gesellschaftlich Randständige finden. Gleichzeitig formuliere Kleist das Rauschhafte, die Sucht nach extremen physischen Erfahrungen, die auch unsere Gesellschaft kennt. Kleists Texte seien grundsätzlich unauslotbar und daher nie völlig zu Ende zu lesen, jede neue Lektüre bleibe spannend und fordere den heutigen Leser immer noch heraus.
Unvermittelt tauchen vor dem Auge Bilder auf von Stücken, von Figuren aus Novellen, die genau diese Topoi verkörpern und sich uns als Heutige, Sinnsuchende, Grenzen Auslotende in den Weg stellen. Ja, das geht uns durchaus etwas an und beschäftigt uns. Aber was ist mit einem Text wie „Über das Marionettentheater“? Nehme ich ihn als Teil einer abgelebten Literaturgeschichte zur Puppe wahr, als historischen Beitrag zu einer Existenzphilosophie? Oder stimuliert er noch heute mein Nachdenken, meine Praxis über/in/mit der Puppe? Ist es noch möglich, von Kleist interessante Anstöße zum Nachdenken über das Figurentheater zu bekommen?
Diese Gedanken haben die Double-Redaktion veranlasst, die Puppenspieler Frank Soehnle, Karin Schäfer, Michael Vogel und Julika Mayer nach ihrem Bezugspunkt zu Kleists Marionettentext zu fragen. Hier zeigt sich, welche Bedeutung Kleist für die heutige Figurentheaterpraxis noch hat. Dass Kleist für die Theaterwissenschaft durchaus noch nicht völlig ausgelotet ist, belegen die Beiträge von Didier Plassard, der Kleist in einen spannenden Zusammenhang mit Edward Gordon Craig setzt, von Christoph Lepschy, der den Prothesenkörper bei Kleist als Herausforderung an eine idealistische Ästhetik erläutert, von Gerrit Münster, der Kleists Mechanikus als Vorbild für die moderne Robotik versteht, von Lars Rebehn, der uns enthüllt, welches Puppentheater Kleist denn nun wirklich beim Schreiben vor Augen hatte und von Meike Wagner, die den Kleist-Faden in der Puppentheorie der 1930er sucht und ihn als Legitimation einer künstlerischen Sicht auf Puppen findet. Den Kleist Thementeil abschließend berichtet Anna-Sophia Fritsche über eine aktuelle performative Umsetzung des Kleist-Textes von Billy Burns und Victor Morales am Gorki-Theater in Berlin. Edward Gordon Craig ist auch Thema in zwei weiteren Beiträgen des Heftes, ausgehend von der erstmaligen Publikation seines „Drama for Fools“. Einen Einblick in das Figurentheater im Iran erlauben die Beiträge von Annette Dabs und Shiva Massoudi. Als Hommage an die Theaterwissenschaftlerin Brunella Eruli, die in diesem Sommer verstorben ist, drucken wir eines ihrer letzten Editorials unter der Rubrik Essay en français nach und würdigen sie mit einem Nachruf. Zum jeweils 40-jährigen Jubiläum gratulieren wir der dänischen Gruppe 38 und dem Studiengang Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Dass das Figurentheater noch lange nicht am Ende des Fadens angekommen ist, zeigen Festivalberichte aus Bochum, Baden und Straßburg und Rezensionen aus Bautzen und Belgien.
Thema
- Von Kleist bis Craig
Wege einer idealistischen Theaterästhetik
von Didier Plassard - Ästhetik der Prothetik
Heinrich von Kleist und die Kunst der orthopädischen Mechanik
von Christoph Lepschy - Göttlicher Gliedermann
Kleist und die Maschinenvisionen der Moderne
von Gerrit Münster - Mein Kleist: Kleists Kern.
Keine Poesie ohne Technik ohne Poesie
von Frank Soehnle - Mein Kleist: „Über das Marionettentheater“ inszenieren
von Karin Schäfer - Mein Kleist: Über das Marionettentheater
Raus aus diesem Kleistgefängnis
von Michael Vogel - Mein Kleist: Spurensuche
Mein Kleistgespenst, ein Detail
von Julika Mayer - Über das Metamorphosen-Theater
Kleist und die historische Puppenpraxis
von Lars Rebehn - Von der „Grazie“ zum „Stil“
Kleist und die deutsche Puppentheorie in den 1930ern
von Meike Wagner - Gelbe Punkte sind Fäden sind Daten sind Zahlen
Eine Expedition zur Marionette der Zukunft auf dem Kleistfestival 2011 im Maxim Gorki Theater Berlin
von Anna-Sophia Fritsche
Stippvisite
- Im Schatten der Literatur
Zur Dramaturgie des iranischen Puppentheaters
von Shiva Massoudi - Zwischen Tradition und Aktualität
Das „14. Mobarak Festival“ in Teheran 2012
von Annette Dabs
Essay
- Points critiques
von Brunella Eruli
Inszenierungen
- Faust im Gestell
„Faust. Das Leben einer Legende“ am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen
von Tobias Prüwer - Eine Kindheit verdichtet
„Vy“ von Michèle Nguyen
von Christiane Klatt
Ausblick
- The beat goes on
Ein Schlaglichter-Spaziergang über die dOCUMENTA (13)
von Tim Sandweg
Festival
- Am Anfang war ein weißes Blatt
Die FIDENA in Bochum thematisiert den künstlerischen Prozess
von Mareike Theile - Greifbar Imaginäres
Gedanken zu den „Giboulées de la marionnette“ in Strasbourg
von Silvia Brendenal - Baden im Festivalrausch
Zur Jubiläumsausgabe des FIGURA Theaterfestivals in Baden, Schweiz
von Anke Meyer
Portrait
- Keine mildernden Umstände
40 Jahre Teatret Gruppe 38 – Ein Besuch bei Bodil Alling
von Frank Bernhardt
Next Generation
- Selbstbewusst und selbstbestimmt
40 Jahre Studiengang Puppenspielkunst in Berlin
von Mascha Erbelding
Tagung
- The actor must go!?
Das internationale Kolloquium über Craig und Kantor am Institut International de la Marionnette in Charleville-Mézières
von Katharina Wild
Buchbesprechung
- Theater für Narren
Edward Gordon Craigs „Drama for Fools“ in einer zweisprachigen Ausgabe
von Mascha Erbelding
Nachruf
- Eine Erinnerung an Brunella Eruli
(1943–2012)
von Cristina Grazioli
Notizen & Festivalkalender
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At the end of the string…?
In 2011, “Kleist’s year”, there were a lot of articles and events discussing the contemporary relevance of the dramas and writings of Heinrich von Kleist. But what about attitudes to a text like “Über das Marionettentheater”? Should we see it as part of an antiquated literary history on puppets or a historical contribution to a philosophy of existence? Or can it still stimulate our thinking today and our various practical approaches to puppets? Can Kleist still inspire us to think more deeply about puppet theatre?
The editors of Double have used such thoughts as an excuse to ask puppeteers and theatre scholars to read the text once again, make their own interpretations and find new ways of looking at topics like machines and artificial limbs, puppet theatre history and theory, and the writings of Edward Gordon Craig.
Craig is also the theme of two further articles in this edition, starting from the first bilingual publication of his “Drama for Fools”. Articles by Annette Dabs and Shiva Massoudi give us an insight into puppet theatre in Iran. The essay in this edition of Double is a homage to the theatre scholar Brunella Eruli who died this summer and to whom we also pay tribute in an obituary. We also congratulate the Danish group 38 and the puppetry department of the “Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch”, both of which are celebrating their 40th birthday. Festival reports from Bochum, Baden and Strasburg, and reviews from Bautzen and Belgium show that puppet theatre has a long way to do before it reaches the “end of the string”.