Räume – Orte – Szenographie
Heft 2/2007
Inszenierungen: New York, München, Berlin …
Arbeitstreffen: Desden
… wir machen die Entdeckung, dass Widersprüchliches, ja Gegensätzliches (belebt/unbelebt, lebendig/starr) nebeneinander bestehen kann und dass wir es sind, die, ausgehend von dieser Entdeckung, die Beschaffenheit und die Bedeutung unserer Wahrnehmungen rekonstruieren müssen. Von diesem Moment an kann der Zuschauer seinen Sinnen nicht mehr trauen. Die Elemente, die die Bühne bietet, müssen neu überdacht werden, und zwar nach Kategorien, die jedesmal neu erfunden werden müssen. In seiner Verwirrung zieht sich der Zuschauer lieber auf das ihm Vertraute zurück. Er beschwört ein Theater, eine Wahrheit, in deren Namen er jegliche Veränderung zurückweist. Die Veränderung ist bekanntlich weder einfach noch schmerzlos.
Um uns anzueignen, was wir zu sehen bekommen, um die Bilder zu verstehen, die uns bedrängen, müssen wir bereit sein, alles neu aufzubauen, angefangen mit unserem Blick. Wir müssen entziffern, wo wir lesen zu können glaubten, wir müssen uns Fragen stellen, wo wir doch gewohnt waren, zu verstehen und sofort ein Urteil abzugeben, am Nullpunkt anfangen, wo wir doch dachten, ein solides Wissen zu haben. Kurzum, wir müssen eine Welt aufbauen, wo wir doch dachten, einer Theatervorstellung beizuwohnen.
(Brunella Eruli, »Aufhebung der Maßstäbe«, in Puck Nr. 4)
Dennoch, keine Frage, eine Theatervorstellung findet nicht im Luftleeren statt, jede Inszenierung braucht einen Raum, einen Ort, an dem sie sich manifestieren kann. Und manchmal, besonders bei freien Produktionen, die auf Gastspielreise gehen, wandern die Inszenierungen, mit ihren Szenenbildern, ihren Wegen und Energiepunkten von Ort zu Ort, in höchst unterschiedliche Räume. Wie können sie dabei bestehen; welche Rolle spielt die konkrete Umgebung, in der eine Inszenierung gezeigt wird, für die Wahrnehmung durch den Zuschauer? Wo wird der Raum zum Hindernis, wo wird er zum Mitspieler, zum Impulsgeber für Szenographie oder gar zum heimlichen Hauptdarsteller? Was geschieht bei der Überlagerung des imaginären Raumes mit dem gegebenen – nicht »wirklichen«? Wie verwandelt öffentlicher Raum das im Innersten Verborgene?
Und was ist eigentlich ein Raum? Was bedeutet er für den Künstler, den Puppenspieler, den Regisseur, den Szenographen? Für jeden etwas Eigenes, wie man in den Beiträgen von Stefanie Oberhoff, Jonas Knecht oder Catherine Sombsthay lesen kann – und doch gibt es zumindest eine Übereinstimmung: Er ist unbestreitbar mehr als eine Hülle, ein Gefäß. Er ist auch mehr als seine geometrischen Komponenten, mehr als die Linien, die sich überschneiden, seine Wege und Kreuzungen, seine Proportionen. Wobei selbst diese manchmal »wie eine Kabbala zu sprechen scheinen und entziffert werden müssen«, wie Ulrike Haß in ihrem Beitrag über eine Tagung im Festpielhaus Hellerau schreibt.
Mit ihrem Artikel über das Festival des JungenFigurentheaters in Stuttgart schließt Mascha Erbelding unmittelbar an das Thema des Heftes an. Sie beschreibt anhand der im Festival gezeigten Inszenierungen den kreativen Umgang junger Künstler mit Raum – dem inneren und dem äußeren, verfremdet durch das Zerr- oder Spiegelbild durchsichtiger Scheiben. Und indem sich Katja Spiess mit drei neuen Inszenierungen für Kinder auseinandersetzt, denkt sie über jenen schöpferischen Raum aus Szenographie, Bild, Licht, Ton und Darstellung nach, den die Macher dieser Inszenierungen kreierten, um ihren besonderen Zuschauer, den kindlichen, den wachen, den seismographischen, ihren Mit-Spieler, in den Raum des inneren Erlebens zu entführen »Mit dem Raum umzugehen bedeutet also, …die Erfahrung der Kindheit zu wiederholen; es bedeutet, am Ort anders zu sein und zum anderen überzugehen.« (Michel de Certain, nach Marc Augé, »Orte und Nichtorte«)
Silvia Brendenal, Anke Meyer
Räume – Orte – Szenographie
- Kein Bühnenbild
Der Bühnenraum als Labor für Geisteszustände
von Stefanie Oberhoff - Kopfräume
Die Produktion von Bild(t)räumen im Theater
von Jonas Knecht - Blicke aus rotem Samt
Über Beziehungen zwischen Blick und Raum
von Roland Shön - Eine Art Spiegel
von Catherine Sombsthay - Gebaute und gelebte Räume
Ästhetische Intervention in einem ehemaligen Industriequartier
von Anke Meyer - Genius Loci
Theater ohne Fluchtpunkt in Hellerau
von Ulrike Haß
Festival
- Schauer bei schönstem Wetter
»Les Giboulées de la Marionnette« in Straßburg
von Lothar Drack - Schule des Sehens
Über drei Kinderinszenierungen beim Festival »hellwach« in Hamm
von Katja Spiess - Prisma
NEWZ – Festival des Jungen Figurentheaters in Stuttgart
von Mascha Erbelding
Ausbildung
- Fleisch aus der Mitte des Wales
»Moby Dick«, eine 26h-Performance
von Emilio García Webhi und Marical Alvarez
Inszenierung
- Verständnis enttarnt
»Beethoven In Camera« von Dead Puppet, New York
von Silvia Brendenal - Das Leben als Spiel
Tschechows »Drei Schwestern« an den Münchner Kammerspielen
von Meike Wagner - Monastatos anders angelegt
»Zauberflöte – Eine Prüfung«, Thalia Kompagnons
von Annette Dabs - Doppelter Schatten
»Königs Weltreise« von Annette Wurbs und Peter Müller
von Tim Sandweg - Mikado oder die Angst des Erzählens
»FREMDE« – Freie Diplominszenierung an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin
von Jörg Lehmann - Kein Festival!
Zum Arbeitstreffen kommunaler sächsischer Puppentheater in Dresden
von Anke Meyer
Buchbesprechung
Notizen
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