double #10

Das Festival im Kopf

Heft 1/2007

Ausbildung: Berlin / international
Inszenierungen: Leipzig, Tübingen, Hiddensee


Editorial

»Hätte ich nur 10.000 Taler, so würde ich folgendes veranstalten: In Zürich würde ich auf einer schönen wiese bei der stadt von Bret und / balken ein rohes Theater nach meinem plane herstellen und lediglich blos mit der ausstattung an decorationen und maschinerie versehen lassen, die zu einer Aufführung des Siegfried nötig ist. Dann würde ich mir die geeignetsten Sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf 6 wochen nach Zürich einladen (…). Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle freunde des musikalischen Drama’s durch alle Zeitungen Deutschland’s mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: Wer sich anmeldet, bekommt gesichertes entrée, – natürlich wie alle entrée: gratis! Des weiteren lade ich die hiesige jugend, Universität, Gesangsvereine u.s.w. zur Anhörung ein. Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer woche stattfinden: nach der dritten wird das theater eingerissen und meine partitur verbrannt. Den leuten, denen die sache gefallen hat, sage ich: »nun macht’s auch so!« Wollen sie auch von mir einmal wieder etwas Neues hören, so sage ich aber: »schießt ihr das Geld zusammen!« Richard Wagner, 1850 Festivals stellen in der Welt des Theaters den Sonderfall dar, wie er etwa durch die Anwesenheit einer Biene in der Unterhose repräsentiert wird: Das Tier ist an diesem Ort äußerst fragwürdig, beschleunigt aber Gang und Herzschlag. Die Biene, der Käfer, die Spinne, ein ganzes, gut geerdetes Bestiarium als Geburtshelfer für den Gedanken »Festival im Kopf«? Das kennen wir doch schon aus anderen Zusammenhängen: Eros und Thanatos, Apollon und Dionysos im gemeinsamen Fest. Oder, um es mit Karl Valentin einfach-vertrackt auszudrücken: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«

Bevor dieses Editorial nun von Esprit durchweht erscheint, beeilen wir uns festzustellen, dass es im Thementeil dieses Heftes nicht um die Kunst an sich, sondern um das »making of festival« geht. Es gibt eine beachtliche Anzahl dieser Gattung allein in Europa, die im Ein- oder Zweijahresrhythmus kontinuierlich ihren Platz im Veranstaltungskalender einnehmen und die Spielräume des Figurentheaters international ausloten. In der Regel treten sie als ein in sich geschlossenes Produkt hervor, das sich via Plakat, Programmheft, Logo und Pressearbeit einem Publikum als Attraktion mit zeitlich klar begrenzter Dauer und räumlich desperaten Veranstaltungsorten stellt.

Nicht selten ist der Einlader und Gastgeber selbst zu Gast an Orten, die in ihrer Eigenart zum Teil dem noch so versierten Theaterbesucher einen ungewöhnlichen Eindruck von Kunstplätzen seiner Stadt oder Region vermitteln. Der (vermeintlichen) Leichtfüßigkeit des Hier und Dort und Irgendwo korrespondiert eine gewisse Beschleunigung der Aufnahmeanforderungen, die sich merkwürdiger Weise einer (scheinbaren) Verknappung von Zeitressourcen verdankt. »If not now, when ever?« Um diesen »immer jungen Frühling« dürfen Festivals von den Lastkähnen und Tankern festgefügter Kulturbollwerke zu Recht beneidet werden.

Im Thema stellen wir Festivals in ihrer Außenwirkung und Festivalmacher mit ihren Konzepten und Reflexionen zum eigenen Tun vor. Wolf-Dieter Ernst beschreibt einen kollektiven Prozess, aus dem als willkommenes Seitenstück auch ein Festival hervorgeht. Mascha Erbelding begibt sich für uns in den Hexenkessel von Madame la Marionnette in Charlesville-Mézières, dessen überschäumende Festplatzenergie den Wunsch nach einem Führer durch die Höhen und Tiefen eines Programmdschungels wach rufen. Meike Wagner spricht mit Bodo Birk über die Realität und Utopie des Festival-Machens in Erlangen. Und Yves Bodin erläutert künstlerische Zusammenhänge und Interaktionen zwischen der eigenen Theaterarbeit und dem Zustandekommen eines Festivals. Ahnt der Festivalbesucher, dass er sich mit dem Erwerb der einen oder anderen Eintrittskarte in höchste Gefahr begibt? Will er wirklich Augen- und Ohrenzeuge eines performativen Feuerwerkes werden, gar einer Brandschatzung der Kunst, wie sie Wagner in seinem Zürcher Exil 1850 als Vision eines autonomen Theaterereignisses entwirft? Trotz eingehaltener feuerpolizeilicher Schutzvorschriften sollte sich das Publikum nicht zu sicher fühlen. Der Festivalwahnsinn packt zu, der kollektive Taumel erfasst die Sinne.

Gerd Taube, Meike Wagner, Manfred Wegner

Inhalt

Das Festival im Kopf

  • Festival der Nomaden
    Transeuropa 2006 widersetzt sich dem Staatsapparat
    von Wolf-Dieter Ernst
  • (Ein-)Blick ins Schaufenster
    Mascha Erbelding im Gespräch mit Lucile Bodson
    von Mascha Erbelding und Lucile Bodson
  • Zwischen Publikumsanspruch und Welt-Verbessern
    Meike Wagner im Gespräch mit Bodo Birk über Realität und Utopie des Festival-Machens in Erlangen
    von Meike Wagner und Bodo Birk
  • Ein Fest für das Imaginäre
    Gedanken von Yves Baudin und Corinne Grandjean über Idee und Konzept der Semaines internationales de la Marionnette en Pays Neuchâtelois
    von Yves Baudin und Corinne Grandjean

Festival

  • Die Puppe als Zeitgenosse
    Streifzüge durch das 14. Festival Mondial des Théâtres de Marionnettes in Charleville-Mézières
    von Katja Spiess
  • Stadt-Theater in Baden
    Eindrücke vom Figura Theaterfestival 2006
    von Anke Meyer
  • Geschichte und Gegenwart
    Sich erinnern und sich erinnern lassen
    Von der Darstellbarkeit des Holocaust
    von Chris Wahl

Ausbildung

  • Versuchung der Vielfalt
    Bemerkungen zum internationalen Forum jungen Figurentheaters in Berlin
    von Suvi Auvinen

Inszenierungen

  • Modern Times
    »Spleen. Charles Baudelaire: Gedichte in Prosa« vom Figurentheater Wilde & Vogel
    von Tobias Prüwer
  • Das Enthüllen des Verborgenen?
    »salto lamento« vom figuren theater tübingen
    von Helmut Landwehr
  • Von den Mysterien einer Schiffskombüse
    »Chimära« von der Seebühne Hiddensee
    von Holger Teschke

Notizen

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