double #09

Theaterkunst als Prozess

Heft 3/2006

Festivals: Bielsko-Biala, Bialystok, Paris, Erfurt
Buchbesprechung: Marionettenspiele im Rabenhaus


Editorial

Eine über Jahrhunderte unveränderte Inszenierung, von unveränderlichen Spielern für ein unveränderliches Publikum präsentiert, wäre das noch Theater? Eine überflüssige Frage, denn mindestens zwei der Grundannahmen sind selbstverständlich unrealistisch. Produzenten und Rezipienten des Theaters sind stets ihrer Zeit verhaftet, die Aufführung ist immer Kondensationspunkt menschlicher Gegenwart in all ihrer chaotischen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Theater ist der Versuch, in dem unentwirrbaren Geflecht an Erfahrungen, Impulsen und Beziehungen Momente der Gemeinsamkeit zu erschaffen. Dass dies gelingt, und es gelingt wunderbarer Weise immer wieder, ist vor allem einem Aspekt geschuldet: Theater lebt aus der Bewegung, es blüht im Versuch der Annäherung auf beiden Seiten der Bühnenkante und stirbt mit der Trägheit einer der Protagonisten. Theater ist das Phantom, das spürbar zwischen Bühne und Zuschauersitz Gestalt gewinnt und sich jeder Beweisbarkeit verweigert.

Das Bemühen um Annäherung an den Partner, den Zuschauer, die Vision auf der einen, an die Darsteller und die Erzählung auf der anderen Seite erzeugt die Prozesshaftigkeit des Theaters, die mit Blick auf die Spezifika des Figurentheaters in der aktuellen Ausgabe von »double« beleuchtet werden soll. Ohne Aussicht, der gewählten Aufgabe in ihrer Gesamtheit gerecht werden zu können, setzt die Redaktion auf die Vielfalt von Stimmen und Perspektiven. Der polnische Theaterhistoriker Hendryk Jurkowski gibt Einblicke in die Genese des Genres im Verlauf des an sozialen, politischen und künstlerischen Eruptionen so reichen 20. Jahrhunderts. Theorieorientiert ist auch der Beitrag des Theaterwissenschaftlers Hajo Kurzenberger in seiner Untersuchung kreativer Prozesse in der Theaterarbeit. Dem gegenüber stehen praxisbezogene Innenansichten aus der Theaterarbeit. Frank Soehnle, einer der renommiertesten Figurenspieler Deutschlands, vermittelt einen Begriff der untergründigen Feinstrukturen des Animationsprozesses. Ein Werkgespräch von Theatermacherinnen und Theatermachern unter der Leitung von René Reinhardt, dem künstlerischen Leiter der Leipziger Schaubühne Lindenfels, beschäftigt sich mit der Prozesshaftigkeit in der Aufführungspraxis selbst.Zwischen analytischer Präzision und erfrischender Utopie spannt sich schließlich der Beitrag zur Jahrestagung der Ständigen Konferenz Spiel und Theater an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland der beiden Wissenschaftler und Theaterpädagogen Gerd Koch und Ute Pinkert. Das hier zitierte »Manifest transeuropa 2006, no. 10 a« schließt den Bogen: »Ensembles, Zuschauer, Kollektive! Zusammen sein ist immer romantisch!…Wir sind da! Wir sind nicht hier, nicht dort! Und wieder weg! Wir sind nicht für immer!« Das Phantom lässt grüßen. Und es bewegt sich.

Christian Bollow, Katja Spiess, Gerd Taube

Inhalt

Theaterkunst als Prozess

  • Freiräume kollektiver Kreativität:
    Die Infragestellung theatraler »Grundannahmen«
    von Hajo Kurzenberger
  • Das Höchste der Gefühle
    Ein Gespräch über Gegenwärtigkeit und Prozesshaftigkeit in der Aufführungspraxis
    von Yvette Coetzee, René Reinhardt, Hendrik Mannes, Peter Rinderknecht, Michael Vogel, Charlotte Wilde
  • Animationsprozesse
    Christian Bollow im Gespräch mit Frank Soehnle
    von Christian Bollow
  • A Never ending Story
    ProzessProduktProzessProdukt… Eine Montage
    von Gerd Koch
  • Renaissance, Niedergang und Triumph der Puppe
    Zu historischen Entwicklungsprozessen der Theaters mit Puppen im 20. Jahrhundert
    von Henryk Jurkowski

Festival

  • Wegbegleiter in Polen
    40 Jahre Festival in Bielsko-Biala
    von Annette Dabs
  • Zwischen radikal und brav
    Über das Internationale Festival der Puppentheaterhochschulen in Bialystok
    von Silvia Brendenal
  • Gross im Kleinen
    Über die sechsten »Scènes ouvertes à l’insolite« in Paris
    von Katja Spiess
  • Märchen, Mythen, Malereien
    Synergura 2006 in Erfurt
    von Annette Dabs

Inszenierungen

  • Das Wort als Geste und Bild
    Josef Nafj eröffnet das Festival 2006 in Avignon mit«ASOBU. Hommage à Henri Michaux«
    von Anke Meyer
  • Versprechen an die Zünfte
    »Labyrinth« – Diplominszenierung von Wibke Alphei, Nicola Reinmöller, Birte Hebold, Yifat Maor und Christian Pfütze, Berlin
    von Christian Bollow
  • Sommer, Studio, Abend
    »Ursel« und »Modesty Blaise – Die tödliche Lady«, zwei Arbeiten des Puppenspielstudios Halle
    von Silvia Brendenal

Bücher

  • Ein Stück der Züricher Kulturgeschichte
    von Hana Ribi
    Notizen
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