Theaterkunst als Prozess
Heft 3/2006
Festivals: Bielsko-Biala, Bialystok, Paris, Erfurt
Buchbesprechung: Marionettenspiele im Rabenhaus
Eine über Jahrhunderte unveränderte Inszenierung, von unveränderlichen Spielern für ein unveränderliches Publikum präsentiert, wäre das noch Theater? Eine überflüssige Frage, denn mindestens zwei der Grundannahmen sind selbstverständlich unrealistisch. Produzenten und Rezipienten des Theaters sind stets ihrer Zeit verhaftet, die Aufführung ist immer Kondensationspunkt menschlicher Gegenwart in all ihrer chaotischen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Theater ist der Versuch, in dem unentwirrbaren Geflecht an Erfahrungen, Impulsen und Beziehungen Momente der Gemeinsamkeit zu erschaffen. Dass dies gelingt, und es gelingt wunderbarer Weise immer wieder, ist vor allem einem Aspekt geschuldet: Theater lebt aus der Bewegung, es blüht im Versuch der Annäherung auf beiden Seiten der Bühnenkante und stirbt mit der Trägheit einer der Protagonisten. Theater ist das Phantom, das spürbar zwischen Bühne und Zuschauersitz Gestalt gewinnt und sich jeder Beweisbarkeit verweigert.
Das Bemühen um Annäherung an den Partner, den Zuschauer, die Vision auf der einen, an die Darsteller und die Erzählung auf der anderen Seite erzeugt die Prozesshaftigkeit des Theaters, die mit Blick auf die Spezifika des Figurentheaters in der aktuellen Ausgabe von »double« beleuchtet werden soll. Ohne Aussicht, der gewählten Aufgabe in ihrer Gesamtheit gerecht werden zu können, setzt die Redaktion auf die Vielfalt von Stimmen und Perspektiven. Der polnische Theaterhistoriker Hendryk Jurkowski gibt Einblicke in die Genese des Genres im Verlauf des an sozialen, politischen und künstlerischen Eruptionen so reichen 20. Jahrhunderts. Theorieorientiert ist auch der Beitrag des Theaterwissenschaftlers Hajo Kurzenberger in seiner Untersuchung kreativer Prozesse in der Theaterarbeit. Dem gegenüber stehen praxisbezogene Innenansichten aus der Theaterarbeit. Frank Soehnle, einer der renommiertesten Figurenspieler Deutschlands, vermittelt einen Begriff der untergründigen Feinstrukturen des Animationsprozesses. Ein Werkgespräch von Theatermacherinnen und Theatermachern unter der Leitung von René Reinhardt, dem künstlerischen Leiter der Leipziger Schaubühne Lindenfels, beschäftigt sich mit der Prozesshaftigkeit in der Aufführungspraxis selbst.Zwischen analytischer Präzision und erfrischender Utopie spannt sich schließlich der Beitrag zur Jahrestagung der Ständigen Konferenz Spiel und Theater an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland der beiden Wissenschaftler und Theaterpädagogen Gerd Koch und Ute Pinkert. Das hier zitierte »Manifest transeuropa 2006, no. 10 a« schließt den Bogen: »Ensembles, Zuschauer, Kollektive! Zusammen sein ist immer romantisch!…Wir sind da! Wir sind nicht hier, nicht dort! Und wieder weg! Wir sind nicht für immer!« Das Phantom lässt grüßen. Und es bewegt sich.
Christian Bollow, Katja Spiess, Gerd Taube
Theaterkunst als Prozess
- Freiräume kollektiver Kreativität:
Die Infragestellung theatraler »Grundannahmen«
von Hajo Kurzenberger - Das Höchste der Gefühle
Ein Gespräch über Gegenwärtigkeit und Prozesshaftigkeit in der Aufführungspraxis
von Yvette Coetzee, René Reinhardt, Hendrik Mannes, Peter Rinderknecht, Michael Vogel, Charlotte Wilde - Animationsprozesse
Christian Bollow im Gespräch mit Frank Soehnle
von Christian Bollow - A Never ending Story
ProzessProduktProzessProdukt… Eine Montage
von Gerd Koch - Renaissance, Niedergang und Triumph der Puppe
Zu historischen Entwicklungsprozessen der Theaters mit Puppen im 20. Jahrhundert
von Henryk Jurkowski
Festival
- Wegbegleiter in Polen
40 Jahre Festival in Bielsko-Biala
von Annette Dabs - Zwischen radikal und brav
Über das Internationale Festival der Puppentheaterhochschulen in Bialystok
von Silvia Brendenal - Gross im Kleinen
Über die sechsten »Scènes ouvertes à l’insolite« in Paris
von Katja Spiess - Märchen, Mythen, Malereien
Synergura 2006 in Erfurt
von Annette Dabs
Inszenierungen
- Das Wort als Geste und Bild
Josef Nafj eröffnet das Festival 2006 in Avignon mit«ASOBU. Hommage à Henri Michaux«
von Anke Meyer - Versprechen an die Zünfte
»Labyrinth« – Diplominszenierung von Wibke Alphei, Nicola Reinmöller, Birte Hebold, Yifat Maor und Christian Pfütze, Berlin
von Christian Bollow - Sommer, Studio, Abend
»Ursel« und »Modesty Blaise – Die tödliche Lady«, zwei Arbeiten des Puppenspielstudios Halle
von Silvia Brendenal
Bücher
- Ein Stück der Züricher Kulturgeschichte
von Hana Ribi
Notizen
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