Der fremde Blick
Das Spiel schien geendet, als plötzlich der Puppenspieler sein zur furchtbaren Fratze verzerrtes Antlitz emporhob in den Raum der Puppen und mit totstarren Augen gerade hin in den Kreis blickte. Pulcinell von der einen Seite, der Doktor von der anderen schienen über die Erscheinung des Riesenhauptes sehr erschrocken, dann erholten sie sich aber, beschauten sorglich mit Gläsern das Antlitz, betasteten Nase, Mund, die Stirn, zu der sie kaum hinauflangen konnten, und begannen einen sehr tiefsinnigen gelehrten Streit über die Beschaffenheit des Haupts und auf welchem Rumpf es sitzen könne, oder ob überhaupt ein Rumpf als dazugehörig anzunehmen. Der Doktor stellte die aberwitzigsten Hypothesen auf, Pulcinell zeigte aber dagegen viel Menschenverstand und hatte die lustigsten Einfälle. Darum wurden sie zuletzt einig, daß, da sie keinen zum Kopf gehörigen Körper wahrnehmen könnten, es auch keinen gäbe.
E.T.A. Hoffmann, Der Doppeltgänger
Eine neue Zeitschrift liegt vor Ihnen: double. Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater. Schon der Dreiklang im Untertitel deutet auf Uneinigkeit: Denn vielgestaltig sind die Namen für das Theater geworden, dem wir diese Zeitschrift widmen. Unmöglich scheint die Verständigung auf einen Begriff, einen kleinsten gemeinsamen „Nenner“. Diese Vielfalt an Namen, der engagierte Diskurs um die Gattungsbestimmung erzählt freilich nicht nur von der Lebendigkeit des Genres. Er ist auch Ausweis einer Geographie in Bewegung, einer Theaterlandschaft, die – an der Peripherie des Kulturbetriebs siedelnd – eine beispiellose Dynamik entwickelt hat. Dementsprechend verstehen wir auch die Erstausgabe dieser Zeitschrift weniger als fertiges Produkt denn als ersten Schritt eines Prozesses, offen für Veränderung und Entwicklung.
In den letzten 50 Jahren ist das Puppenspiel aus den relativ engen Gefilden eines Volkserziehungsinstruments ausgebrochen und versteht sich nunmehr selbstverständlich als eigenständige Kunstform. Die Erweiterung des Spielmaterials von plastisch gestalteten Puppen auf Gegenstände, Räume, Licht hat eine Brücke zur bildenden Kunst, zur Installations- und Performancekunst entstehen lassen. Aus der Öffnung des Spielraums, der Aufsprengung des klassischen Guckkastens und dem Erscheinen des Spielers selbst auf der Bühne des Puppentheaters,als Partner und/oder als Animator ist eine Verbindung zum Schauspiel gewachsen.
Dergestalt präsentiert sich das Puppen- und Figurentheater heute als offene und durchlässige Kunstform,als Schnittpunkt unterschiedlicher theatralischer Forschungsfelder. Der Titel double ist nicht von ungefähr gewählt. Das Thema der
Doppelung ist seit jeher eines der großen Themen des Puppen- und Figurentheaters: Es ist ein Theater der Parallelwelten und Simulacren, der Doppelgänger und Spiegelbilder. Dinge, Puppen, Materialien sind in jeder Inszenierung in ein neues, anderes Verhältnis zum Darsteller gesetzt. Diese Beziehung – zwischen den Körpern und ihren „doubles“ – muss jedes Mal neu bedacht und untersucht werden. Denn die Grenze zwischen diesen „Welten“, zwischen der Simulation und dem Simulierten folgt allein der spielerischen Behauptung. Sie kann deutlich und entschieden gesetzt werden: Hier der Puppenspieler,dort die Puppe; das kann ein eindeutiges hierarchisches Verhältnis sein – wie wir es etwa vom klassischen Marionettenspiel kennen. Sie kann aber auch sehr unscharf werden, wenn sie – etwa im Objekttheater – die Aufmerksamkeit vor allem auf die Beschaffenheit und Gemengelage der Welt der Dinge richtet – in Erwartung ihrer Erwiderung.
In einer solchen Welt ist der Darsteller nicht mehr der auktoriale „Manipulator“,vielmehr wird er Teil einer fremden Welt, in der Hoffnung das „vergessene Menschliche“ (Walter Benjamin) der Dinge wahrnehmbar zu machen. Die Archäologie jener Grenze, die Frage nach der Differenz zwischen Körpern und Dingen eignet daher jeder Inszenierung dieses Theaters auf ganz spezifische Weise. Es ist eine Frage, die auch die merkwürdige Eigentümlichkeit des „Doppelgängers“ erkundet.Denn wer da wen doppelt, ob „Original“ und „double“ überhaupt unterscheidbar wären, oder inwiefern ihnen darum zu tun ist, ebensolche Unterscheidbarkeit zu verwischen, ist eine jener konkreten Seherfahrungen, die das Puppen- und Figurentheater mannigfach bereit hält.
Viel Vergnügen bei der Lektüre. Silvia Brendenal, Christoph Lepschy, Anke Meyer, Katja Spiess, Gerd Taube, Meike Wagner, Manfred Wegner
Thema
- Der fremde eigene Blick
Über den scheinhaften Altruismus der künstlerischen Begegnung mit dem Fremden
Gerd Taube - Das verwunschene Schiff
„until doomsday“ an der Theaterakademie Warschau, Abteilung Puppenspiel, Bialystok
Silvia Brendenal - Drei Lektionen
Marcin Bartnikowski
Jüngste Tage in Bialystok
Charlotte Wilde und Michael Vogel - Dieser irritierende Blick
Ovids „Metamorphosen“ als deutsch-tunesische Koproduktion
Jörg Lehmann - Mina-el bidaya-badaa-koulou chai
Heiki Ikkola - Maturins, Marionnettes et Lisolo
Oder die Zusammenarbeit französischer, deutscher und kongolesischer Künstler
mit Straßenkindern von Kinshasa - Dies ist kein Land
Stefanie Oberhoff - „Oyo Mboka Te“
Eddy Kabeya - Was der Sand erzählt
Uraufführung einer französisch-kongolesischen Koproduktion
Katja Spiess
Festival
- Wie ein lauer Frühlingsregen
Über das 15. Internationale Festival Giboulées de la Marionnette in Strasbourg
Frank Bernhardt - Theaterlandschaft mit Risiko
Das Festival RISK in Amsterdam zeigt niederländisches Puppen- und Objekttheater
Anke Meyer - Schauen und Spielen im Kindertheaterhaus
Symposium „Europäische KinderTheaterHäuser“ in Lippstadt
Anke Meyer - Zwischen innen und außen
Gedanken zum Ersten Europäischen Treffen in Val d’Oise
Melanie Florschütz
Inszenierungen
- Über den Horizont hinaus
Theater Paradox, Stuttgart:„Mrs. Ikarus“
Anke Meyer - Tanz das Leben – just do it!
Compagnie IGNEOUS:„Body in Question“
Silke Haueiss - In Minnes und Zufalls Hand
Am Theater der Puppen im Kali, Nürnberg:„Tristan und Isolde“
Dieter Stoll - Das Prinzip Zweifel
Oder: Die Kasokas im Himmelreich der Fernsehproduktion Theater Kasoka, Berlin: Sacrés Soeurs
Johanna Renger
Porträt
- Körpergemälde
Das Theater der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak
Annette Dabs
Gespräch
- Reicher Fundus
Gespräch zur Ausbildung am Studiengang Figurentheater, Stuttgart
Kolumne
- Ich und meine Puppe
Meike Wagner
Buchbesprechung
Notizen
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