Vorstellung und Wahrnehmung.
Zuschauerperspektiven
Heft 1/2005
Inszenierungen: Arnsberg, Berlin, Bonn, Düsseldorf
Bühne: Stuttgart
Herman Melvilles berühmter Roman von 1851 beschreibt eine Weltreise mit Schiffbruch. Nicht nur die Crew um Kapitän Ahab geht dabei zugrunde, der Roman verabschiedet auch ein ästhetisches Paradigma der Naturwahrnehmung. Die Weltmeere liefern hier kein romantisches Sehnsuchtsbild mehr, sondern sie sind Schauplätze namenloser Schrecken. Ihre ganze Macht entfalten sie nicht zuletzt, weil die Muster der menschlichen Wahrnehmung nicht hinreichen sie zu erfassen. So ist denn der weiße Wal einerseits ein Phantom,die Vision eines Dämons und Ausgeburt der Vorstellungskraft: Das Weiß des Wals wird zur Projektionsfläche menschlicher Angst vor allem, was sich wie Moby-Dicks zerrunzelte Stirn der Lesbarkeit entzieht.Andererseits ist er weit mehr als ein Symbol. Denn der Wal taucht am Ende tatsächlich aus dem Pazifik auf und vernichtet das Schiff.
Das Verhältnis von Vorstellung und Wahrnehmung ist in Melvilles Roman nicht hintergehbar:Wir können nichts von den Motiven des Wals erfahren; wir lesen allein,wie sich Vorstellung und Wahrnehmung von ihm entsprechen und nicht entsprechen. Die Frage, inwieweit die Wahrnehmung des Wals von den Vorstellungen abhängt, die sich die Mannschaft (und der Leser) zuvor von ihm gemacht haben, bleibt. Und umgekehrt?
Es sind Fragen, die auch im Puppen-, Figuren- und Objekttheater auf ihre Weise virulent sind. Wahrnehmung und Vorstellung scheinen sich da (und nicht nur da) ständig zu verfehlen bzw. zu entgleiten.Das ist freilich kein Manko, sondern vielleicht eine der grundlegenden Möglichkeiten dieser Theaterform: Was heißt es, wenn wir eine Puppe als „belebt“ wahrnehmen? Welche Vorstellungen vom Begriff des „Lebendigen“ leiten uns als Zuschauer? Auf welche Weise beeinflusst der Blick des Zuschauers die Vorstellung vom Objekt auf der Bühne? Wie gehen die Theatermacher mit dem Wissen um diesen Blick in ihren Inszenierungen um? Wie funktioniert der kindliche Blick auf die Dinge?
Einige dieser Fragen haben die Autoren des Schwerpunktthemas untersucht. Dabei ließ sich auch ein Spektrum von sehr unterschiedlichen Beschreibungsweisen versammeln. Aus der Perspektive der Bildenden Kunst skizziert Alfred Bast einen Wahrnehmungsstil, der auf Resonanzbeziehungen zwischen Künstler und Ding basiert. Die italienische Theatermacherin Françesca Bettini hat eine literarisch-dramatische Recherche über die Integration des zusehenden Blicks beigesteuert, während der niederländische Künstler Ad van Iersel explizit über seine Beziehung zum Zuschauer beim Spielen berichtet. Gerd Taube erweitert das Thema mit einer Reflexion über die Problematik affirmativer Bestätigung der Zuschauererwartung und schließlich gibt Siemke Böhnisch einen Eindruck vom aufmerksamen Blick jenseits jeglicher Zuschaukonvention, dem Blick der Allerkleinsten unter drei Jahren.
Silvia Brendenal und Christoph Lepschy
Vorstellung und Wahrnehmung.
Zuschauerperspektiven
- Von der Entdeckung des offen Sichtlichen oder Die Sprache der Dinge
von Alfred Bast - Unsichtbare Bananen
Eine Frage-Antwort-Spiel zwischen Gert Engel und Francesca Bettini
von Gerd Engel und Francesca Bettini - Keine Gedanken, keine Botschaft
Gespräch mit dem niederländischen Theatermacher Ad van Iersel
von Ad van Iersel - Affirmation und Perfektion
Hindernisse für ein avanciertes Theater
von Gerd Taube - Das Philoktet-Projekt
Über einen Workshop mit Emilio García Wehbi in Berlin
von Oliver Kranz - Scheinwerfer der Aufmerksamkeit: Zuschauen als Bestandteil der Aufführung
Über die norwegische Produktion „drǻpene“ und die Allerkleinsten im Theater
von Siemke Böhnisch
Festivals
- Großer Bahnhof für kleine Zuschauer
„Kulturbahnhof“ in Hamm: ein neues Theaterhaus für Kinder und ein fast neues Festival
von Anke Meyer - Niederländische Theaterexperimente
Über das Amsterdamer Festival RISK
von Silke Haueiß - Erdachte Bildwelten
„Die Kleemaschine“ beim Festival WEITBLICK, Braunschweig
von Marianne Winter
Inszenierungen
- „Ich möchte wohl ein Baum sein“
„Auf Holzwegen“ des Teatron Theaters Arnsberg
von Johanna Renger - Sein Herz brennt
„Feuer und Flamme“ der Pyromantiker AG im Berliner Tacheles
von Gerd Taube - Sieg über das Kino
„Der Hobbit“ vom Figurentheater Wilde & Vogel und Florian Feisel in der Brotfabrik Bonn
von Elisabeth Fibich - Wie das Bild vom Einhorn durch die Schöpfung wandert
„Das Mädchen mit dem steinernen Rock“ von Silke Kruse in der SCHAUBUDE Berlin
von Marianne Fritz - Von Pelztierkochern und anderen Absurditäten
„Die Tagebücher von Kommissar Zufall“ von half past selber schuld im FFT Düsseldorf
von Annette Dabs
Bühne
- Aufbruch in die Zukunft
Gespräch mit Annette Scheibler vom Stuttgarter Ensemble Materialtheater
von Annette Scheibler
Nachruf
- Peter Klaus Steinmannn (1935 – 2004)
von Christoph Lepschy
Buchbesprechung
- Kiefer, Joachim: Die Puppe als Metapher, den Schauspieler zu denken.
München: Alexander Verlag, 2004. 162 S. ISBN 3-89581-128-9
von Manfred Wegner
Notizen
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