double #06

Anderes Theater in Berlin

Heft 3/2005

Festivals: Erlangen, Stuttgart, Berlin …
Ausstellung: Bad Kreuznach


Editorial

Berlin – Zentrum des anderen Theaters: „An mehreren Tagen der Woche sieht man in Berlin vor diesem oder jenem Hause einen viereckigen Kasten, auf welchem transparent das anspruchslose Wort: ,Figuren=Theater‘ zu lesen ist. Ich habe mich immer gewundert, warum Dichter und Kritiker diese Institution so wenig beachtet haben; sie greifen augenscheinlich in das Volksleben, und würden tief in dasselbe greifen, ließen sich die vornehmen Musensöhne herab, für sie zu dichten und ihre Leistungen zu besprechen. … Dazu kommt, daß die Figuren=Theater in vieler Hinsicht den Menschentheatern vorzuziehen sind, auf welchen letzteren fast ohne Ausnahme Kabale und Liebe, Arroganz und Schachergeist die besten Früchte im Keim ersticken, die schönsten Talente untergraben und die mittelmäßigen ihrer Waden wegen in die Höhe bringen. In den Figurentheatern dagegen haben die Directoren immer Energie, Klugheit und Bindfaden (auf berlinisch: Strippe) genug, ihre Mitglieder in Ruhe und Ordnung zu erhalten …“ (Adolf Claßbrenner, Puppenspiele, 1836)

Es hat sich viel geändert in Berlin und im Puppen- und Figu­rentheater, seitdem Adolf Glaßbrenner unter seinem Pseudonym Ad. Brennglas das 9. Heft seiner Reihe „Berlin wie es ist und trinkt“ mit dem Titel „Puppenspiele“ herausbrachte, worin er mit genauem Blick das Puppentheater und seine Zuschauer als ein Phänomen der Volkskultur beschrieben hat. Wenig geändert hat sich jedoch bis heute an der gesellschaftlichen Reputation, die das Puppen- und Figurentheater genießt – es war und ist das andere Theater, jenseits der Hochkultur und der Hochkulturförderung.

Berlin als Stadt des Puppentheaters hat literarische und publizis­tische Spuren hinterlassen, seit die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Puppenspiel entdeckt haben. Oft sind daher in der Folge Uhland, Kerner, Tieck, Eichendorff und andere als Kron­zeugen zur Legitimierung des Puppentheaters als Kunst aufgeru­fen worden. Und obwohl sich an der gesellschaftlichen Wert­schätzung des Puppen- und Figurentheaters bis heute nur wenig geändert hat und die Klischees vom Puppenspiel als Kasperthea­ter und Kinderbelustigung noch immer die öffentliche Meinung über diese Kunst prägen, haben sich das Puppen- und Figu­rentheater und das Objekttheater zu einer der modernsten und avanciertesten Künste entwickelt. Dass diese Kunstform längst nicht mehr als populäre Kunst zu bezeichnen ist, wie das im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch der Fall war, mag man bedauern, dass es dagegen eng mit den Entwicklun­gen der modernen Performancekunst mit ihrem interdiszi­plinären Denken verknüpft ist, kann als ein Qualitätsbeleg die­nen, der wichtiger ist als ungebrochene und breite Popularität.

Berlin ist eine Stadt, von der vielfältige künstlerische Impulse ausgegangen sind und auch weiterhin ausgehen. Seit den sieb­ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Stadt auch zu einem Zentrum des Puppen- und Figurentheaters ent­wickelt. Mit einer überaus reichen und vielgestaltigen freien Szene in Westberlin, mit den Versuchen der Werkstatt Spiel und Bühne an der damaligen Hochschule der Künste, mit der Hoch­schulausbildung von Puppenspielern an der Abteilung Puppen­spielkunst der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ oder mit der Gründung des ersten freien Theaters der DDR, der Gruppe Zinnober – Berlin war Zentrum der Kunst des Puppen- und Figurentheaters in Deutschland. Was sich in dieser Stadt an Entwicklung dieser Kunst vollzogen hat und vollzieht, konnte und kann sich an keinem anderen Ort Deutschlands ereignen.

In den vergangenen 15 Jahren seit der deutschen Vereinigung hat sich Berlin zunehmend auch international als Knotenpunkt für die Entwicklung dieser Kunst profiliert. Die Überschreitung von traditionellen Genregrenzen und die Etablierung des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters als experimentelle Kunstform haben Berliner Künstlerinnen und Künstler zu maßgeblichen Akteuren in einem europäischen und globalen Netzwerk dieser Kunst gemacht, dadurch sind aber auch viele ausländische Künst­lerangeregt worden, nach Berlin zu kommen und hierzu arbeiten.

Gleichzeitig ist es in Berlin äußerst schwer, die finanzielle Grund­lage für die freie Theaterarbeit zu sichern. Zu viele Theater scharen sich um den viel zu kleinen Topf von Fördermitteln. Diese Ambi­valenz der Bedingungen für die künstlerische Produktion des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters in Berlin zieht sich als Grundgedanke durch ziemlich alle Beiträge des Thementeils in diesem Heft. Dass sich dennoch so viele auf diese Bedingungen einlassen und Berlin als Lebens- und Arbeitsort gewählt haben, hängt wohl auch damit zusammen, dass der Berliner, wie schon Glaßbrennerwusste,zu überleben weiß und mit Witz immer das Beste aus einer Situation zu machen versteht. Offenkundig haben sich die Zugereisten von dieser Berliner Mentalität anstecken lassen. Berlin ist also ein Zentrum des anderen Thea­ters nicht wegen seiner Kulturpolitik, sondern trotz dieser Politik.

Gerd Taube, Silvia Brendenal

„Sommernachtstraum – reorganisiert“, Christoph Bochdansky (Wien) und Figurentheater Wilde&Vogel (Stuttgart).
Foto: Charlotte Wilde

Inhalt

Anderes Theater in Berlin

  • Zwischen Durchlauferhitzer und Erbhof
    Oder: Der Berliner Markt der „Freien“ ordnet sich neu
    von Astrid Griesbach
  • Überlebens-Kunst
    Berlin als künstlerische Home-Base
    von Uta Gebert
  • Mensch & Figur
    Ein Porträt des Fliegenden Theaters Berlin
    von Ulla von Fersen
  • Das Theater leben
    Von der Berliner Gruppe Zinnober zum Theater o.N.
    von Hartmut Mechtel
  • Ein schöpferischer Ort
    Die SCHAUBUDE Berlin im Spagat zwischen Spiel- und Produktionsstätte – Gespräch
    von Gerd Taube und Silvia Brendenal
  • Das Ensemble potenziert die Kreativität
    Ausbildung zum Puppenspieler in Berlin. Gerd Taube unterhält sich mit vier Studierenden in Berlin
    von Gerd Taube

Festivals

  • Die Humanität der Puppe
    Spectacles de fin d’études in Charlevilles-Mézières
    von Anke Meyer
  • In fremden Welten
    Über das 14. Internationale Figurentheater in Erlangen
    von Katja Spiess
  • Von Krankenzimmern, Reiskörnern und einer Giraffe
    ein Tag beim Festival „Theater der Welt“ in Stuttgart
    von Annette Dabs
  • Theater von Anfang an
    Über ein Kolloquium während des Festivals AUGENBLICK MAL!
    von Silvia Brendenal
  • Seekasper
    1. Internationales Puppentheaterfestival im Juni 2005 auf Hiddensee
    von Kai Zeisberg

Inszenierungen

  • Narzissmus kreuzt Schwesternliebe
    „Die wilden Schwäne“, Figurentheater Anne-Kathrin Klatt
    von Anke Meyer
  • Dinge als Komplizen der Sehnsucht
    „Prettig verdwaald“ von Ad van Iersel und Hedy Grünewald
    von Silke Haueiß
  • Glücksfeen-Duette
    „Glücksfeen“ der Dalang Puppen Company Zürich
    von Lothar Drack
  • Die Kraft der Reduktion
    „…des Glückes Unterpfand. Isolation von Ulrike Meinhof“ von Antje Töpfer
    von Christian Bollow

Ausstellung

  • Bad Kreuznach – Theater ganz nah
    Ei Reise-Tipp zu Geschichte und Gegenwart des Puppentheaters
    von Jürgen Kirschner

Nachruf

  • Prof. Dr. Kawrakowa-Lorenz (1941-2005)
    von Silvia Brendenal

Notizen

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