Figur zwischen Drama und Performance
Heft 1/2006
Festivals: Amsterdam, Graz, Neuchâtel
Projekt: Deutsch-französisch-kongolesisches Theaterprojekt
„…alte, zum Großteil uralte, längst aus der Mode gekommene, wertlose, ja unverschämt vollkommen abgenützte Marionetten…, nicht einmal mehr als Requisiten verwendbar“, so erinnert sich Thomas Bernhard in einem seiner biographischen Romane an die Mitpatienten im Salzburger Krankenhaus, in das er 1949 mit einem schweren Lungeninfekt eingeliefert und, als unheilbar von den Ärzten aufgegeben, in das Sterbezimmer überwiesen worden war. Er beschreibt sich als Zuschauer eines ‚Welttheaters‘, dessen Darsteller zum letzten Akt bereit gemacht werden. Aus dem Zwang, den das Geschehen auf den Jugendlichen ausübt, und dem Bemühen, hierfür eine schlüssige Erklärung zu finden, entsteht eine Distanz, da er die Akteure des Spiels und deren Lenker nicht als sinnbildliche Verkörperung seiner eigenen Situation ansieht. Das rettet ihm das Leben, führt ihn aus dem Sterbezimmer – und damit aus dem Theater, das keines mehr ist – hinaus.
Ohne Figur kein Drama – das gilt auch für modernes Figurentheater. Die Art und Weise der dramatischen Figurenkonzeption wird als Maßstab angelegt, um literarische Entwürfe zu unterscheiden, ob es sich um symbolistisches, naturalistisches oder schlichtweg modernes Theater handelt. Für das Puppentheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt die historische Avantgarde und ihr Bezug auf die Kunstfigur als Referenz für eine Reform des Genres. Wenn die bedeutenden Theatertheoretiker wie Edward Gordon Craig oder Vsevolod E.Meyerhold die Puppe als Metapher einer neuen Schauspielkunst zentral setzen, dann bietet es sich an, ihre Figurenentwürfe auch als Bezugsgröße zu bemühen für den Eintritt des Puppentheaters in die moderne Theaterästhetik. Das vorliegende Heft versteht sich als Korrektur dieser Wahrnehmung: Jochen Kiefer legt dar, dass die Puppen-Metapher der historischen Avantgarde völlig abgetrennt von der zeitgenössischen Praxis des Puppentheaters konzipiert wurden. Manfred Wegner verweist auf konkrete historische Zusammenhänge zwischen Theaterreform und Kultur der wilhelminischen Epoche, aus denen heraus auch Ansätze zu einer eigenständigen Puppentheater-Praxis geformt werden konnten. Meike Wagner stellt den Wert einer unkritischen Bezugnahme auf die „Über-Marionetten“ der historischen Avantgarde in Frage, indem sie zeitgenössische Theater-Konzepte beleuchtet, die ganz auf den dramatischen Figurenbezug verzichten. Figuren entstehen hier nur noch als performative Konfigurationen, Material und Objekte entfalten sich auf anderen Bedeutungsebenen. Die argentinische Theatergruppe El Periférico de Objetos steht hierzu Rede und Antwort und gibt Einblicke in das, was im Kern ihrer Theaterarbeit steht – nicht die dramatische Figur und ihre theatralen Handlungen, sondern die Erforschung des Spannungsverhältnisses zwischen Subjekt und Objekt. Der Thementeil beansprucht eine weite zeitliche Spanne, setzt darin aber inhaltlich nur Akzente. Damit wird keine Wertung anderer Phänomene des Figurentheaters als nicht beachtenswert vorgenommen. Entweder sie führen eine produktive Existenz oder haben sich historisch erledigt, das ist und bleibt immer wieder zu diskutieren. Die Aufmerksamkeit dieses Heftes aber zielt auf zeitnahe künstlerische Auseinandersetzungen, deren Wahrnehmung zu eben dieser Diskussion wesentlich beitragen kann.
Katja Spiess / Meike Wagner / Manfred Wegner
Die Puppe als programmatisches Spiel der Differenz
- „Ein Nonplusultra von Nettigkeit“
Das Puppenspiel auf dem Weg zu sich selbst
von Manfred Wegner - Die innere Mitte
Was das neue Theater zusammenhält
von Meike Wagner - „Ihr seid alle Objekte“
Ein Gespräch mit El Periférico de Objetos
Festivals
- Doppelter Blick
Über das 6. Internationale Figurentheaterfestival „Blickwechsel“ in Magdeburg
von Silvia Brendenal - Lügnern, Komödianten, Pataphysikern
Über die 11. Semaine de la Marionnette in Neuchâtel
von Hartmut Topf - Opulenter Bilderbogen
Eindrücke vom Internationalen Festival für Straßen- und Figurentheater „La Strada“ in Graz
von Lothar Drack - Verrückte Poeten 2
Puppen- und Objekttheater-Festival „Niederlande Spezial“ in der SCHAUBUDE; Berlin
von Barbara Fuchs - Ein Festival der Projekte
„RISK Visual Theatre Days“ im Ostade Theater in Amsterdam
von Marek Waszkiel - Schrott und Glimmer
Figurentheater-Inszenierungen beim 12. UNIDRAM-Festival in Potsdam
von Laurence Barbassetti
Inszenierungen
- Von Kriegsalpträumen und postmodernen Märchen
Deutsch-französisch-kongolesisches Theaterprojekt in Bochum
von Johanna Renger - Ächzen und Stöhnen
Spielzeitauftakt in Dresden mit „Arbeiten 1: Zimmermanns Sauger“
von Anke Meyer - Mythos und Wirklichkeit
„Salomé“ von der Kompania Doomsday im Westflügel Leipzig
von Silke Haueiß - „Träumen Vögel von mir?“
„Liquid Skin“, eine Koproduktion von IGNEOUS, Brisbane und figuren theater tübingen
von Ulrike Kirsten Hanne - Aus dem Geigenkasten
„Paganini. Die Magie der Töne“ vom Figurentheater Raphael Mürle
von Katja Spiess
Buchbesprechung
Notizen
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