double #22

Der ständige Begleiter:
Tod und Figurentheater

Heft 1/2011

Festivals: Berlin, Krakau, Avignon
Buchbesprechung: Thinking through Puppets


Editorial

»Eine Figur lebt in dem Moment, in dem der Zuschauer sie als lebendig akzeptiert, sie lebt im Zuschauer und nicht auf der Bühne. Sie stirbt nur, wenn der Zuschauer sie vergisst.« (Frank Soehnle).– Durch die Existenz des Todes ist der Sinn des Lebens noch nicht erklärt, wohl aber der Sinn des Begriffs »Leben«, und das ist doch schon einmal ein Anfang. Ist etwas belebt oder unbelebt? Eine Kernfrage der Puppenspielkunst, der Animation, und deshalb auch ein häufiges Thema in vielen Inszenierungen des zeitgenössischen Figurentheaters. Drei von acht Inszenierungen beim Berliner Uraufführungsfestival »Kreationen«, über das wir in diesem Heft berichten, beschäftigen sich explizit mit dem Tod. Zufall? Der Tod ist als »ständiger Begleiter« aus dem Puppen- und Figurentheater nicht wegzudenken: Er gehört zum archetypischen Figurenrepertoire der Theaterform und verkörpert zugleich ein dem Genre eingeschriebenes wirkungsästhetisches Prinzip. Der Moment der Animation, der »Beseelung« einer Figur, bedarf zwingend auch des Gegenteils: des zunächst als tot und dinghaft wahrgenommenen Objekts. Eine kurze Einführung in die Geschichte der engen Verbindung von Todesdarstellungen und Figurentheater bis ins 20. Jahrhundert gibt Mascha Erbelding.

Die höhere Lebenserwartung, der medizinische Fortschritt und eine häufig auf »Funktionalität« reduzierte Definition von sinnhaftem Leben, lassen uns das Altern und Sterben zunehmend als lästig und unerwünscht verdrängen. Crischa Ohler vom Theater mini-art, das die Themen Sterben und Tod seit Jahren auch in Kinderinszenierungen aufgreift, berichtet von ihren Erfahrungen auf diesem Gebiet. Rituale sind Bewältigungsstrategien der Menschen, und in traditionellen Gesellschaften waren sie über lange Zeiträume stabil und selbstverständlich, boten klar geregelte Umgangs- und Handlungsabläufe. Für den Verlust dieser Konventionen gibt es bislang keine einheitlichen Alternativen, eher eine diffuse Suche, die aktuell den Tod auch als Pop-Vision stilisiert – meint Jelena Susac. Im Spannungsfeld von erotischem Verlangen und Tod entstehen die Inszenierungen der französischen Puppenspielerin und Choreographin Gisèle Vienne, über deren Arbeit Chantal Hurault einen faszinierenden Artikel schrieb. Der »unmögliche Körper« der Puppe, der auf provozierende Weise Totes und Lebendiges in sich zu vereinigen vermag, steht dabei in Zentrum. Auch in llka Schönbeins Theater ist die Bedrohung durch den Tod stets präsent. Die Theaterpuppe ist für sie jedoch vor allem eine tröstende Instanz, entstanden aus dem in kultischen Ritualen verankerten Versuch, mit Hilfe einer Maske oder Puppe dem Tod noch einmal ein Stück Leben zu entreißen. Jenseitsvorstellungen und insbesondere Höllenvisionen sind in vielen Religionen überaus genüsslich ausgemalt. Robin Erik Ruizendaal gibt Einblick in ein höllisch farbenfrohes chinesisches Schattentheater. Vergnügliche Reise durch ein ernstes Thema wünscht die double-Redaktion!

Annette Dabs, Katja Spiess

Summary

Is something animated or is it lifeless? Animation is a core question in the art of puppetry. It is difficult to imagine puppet theatre without Death as a “constant companion”. It belongs to the repertoire of its archetypical characters. That said “death” also embodies an inherent principle in the genre which is aesthetic in its effect. In addition, the moment of animation, the “ensoulment“ of the puppet undeniably necessitates its opposite – the object which is initially perceived as dead material. Mascha Erbelding gives a brief introduction into the history of the close links between the presentation of death and puppet theatre to the 20th century, whilst Robin Erik Ruizendaal introduces readers to the Chinese tradition of the “Theatre of Hell”. The theatre maker Crischa Ohler is of the opinion that contemporary theatre should be about breaking the social taboos of death and dying and developing a new sense of responsibility, whereas the young puppeteer Jelena Susac regards death as already being on the way towards a new pop vision. The shows presented by the French puppeteer and choreographer Gisèle Vienne are caught between erotic desire and death, and Chantal Hurault has provided a fascinating article on the subject. The threat of death is also constantly present in llka Schönbein’s theatre. For her the puppet is primarily a consoling instance created from the cultic wish to create a “regent” for the dead.

Inhalt
  • Der ständige Begleiter
    von Katja Spiess und Annette Dabs

Thema

  • Tod und Figurentheater
    Eine Einführung
    von Mascha Erbelding
  • Das Theater der Hölle
    Darstellungen von Hölle und Wiedergeburt im chinesischen Puppentheater
    von Robin Erik Ruizendaal
  • Erotik und Todessehnsucht
    Über die Arbeit der französischen Theatermacherin Gisèle Vienne
    von Chantal Hurault
  • Ein Stück Wärme
    Annette Dabs im Gespräch mit Crischa Ohler
    von Annette Dabs und Crischa Ohler
  • Am Anfang also stand der Trost
    von Ilka Schönbein
  • Remind me of dying
    Ein Memento mori-Antrag
    von Jelena Sušac

Festival

  • Tut es!
    Eindrücke vom Berliner Festival »Kreationen 2010«
    von Katja Spiess, Mascha Erbelding, Christian Bollow, Loren Kahn und Isabelle Kessler
  • In forma veritas
    Über das Figurentheaterfestival »Materia Prima« in Krakow
    von Silke Haueiß
  • Sirup, Sand, Reis und Zeit
    Zutaten und Momentaufnahmen vom 64. Festival d‘Avignon
    von Julia Dina Heße

Zeitgeist

  • Schaumstoff-Shootingstars
    Das Helmi auf Erfolgskurs
    von Tim Sandweg

Inszenierungen

  • Die Puppen spielen mit Burgess
    »A Clockwork Orange« am Theater Konstanz
    von Christian Bollow
  • Weißclown und August
    »Les éléphants n’oublient jamais … / Elefanten vergessen nie …« von den Pyromantikern, Berlin
    von Laurence Barbasetti

Nachruf

  • Ein großer Verlust
    Zum Tod von João Paulo Seara Cardoso
    von Annette Dabs

Buchbesprechung

  • Thinking through puppets
    Über die Arbeit der Handspring Puppet Company. Jane Taylor (Hg.) Handspring Puppet Company, New York 2009, zahlreiche Farb- und s/w-Abbildungen, 279 Seiten
    von Manfred Wegner

Notizen

Kaufen

Hier können Sie double #22 im TDZ-Online-Shop kaufen.