double #41

Puppe*
Figurentheater und Geschlecht

Heft 1/2020

Stippvisite: Slowenien
Nachwuchs: Fritz-Wortelmann-Preis 2019; Staffelübergabe in Braunschweig


Editorial

„Ich wage deshalb die These, dass Männer die besseren Puppenspieler sind als Frauen.“ Jürgen Klünder begründet diese provokative Aussage, die 1989 in der Zeitschrift „Das Figurentheater“ erschien, aus dem Unvermögen der Männer, Kinder zu gebären. Deshalb seien sie in der künstlerischen Schöpfung kreativer. Prompt folgte eine Entgegnung der Künstlerin Renate Schweizer: „Dadurch, dass Frauen nun ins Figurentheater drängen, fordern sie von Männern nicht automatisch, sich in den Hintergrund zu begeben.“ Sie verlangte, die „einseitige Schwarz-Weiß-Sicht“ endlich aufzugeben und „die vielen Farben zwischen den Extremen wahrzunehmen.“ Vor diesem Hintergrund sollte man die ungeheure Entwicklung schätzen, die das Figurentheater durchlaufen hatte, als Katja Spiess 2002 eine Ausgabe von „Das Andere Theater“ der Frage widmete, ob es eine besondere weibliche Ästhetik gebe. Schon damals verwiesen die befragten Frauen auf ihre künstlerische Autonomie, unabhängig von ihrem Geschlecht.

Und heute? In den Museen werden die lange unbeachteten Werke von Frauen* wiederentdeckt, das Theater hinterfragt Machtmissbrauch infolge von #MeToo. Seit 2018 wird in Deutschland offiziell ein drittes Geschlecht anerkannt und eine gerechtere Verteilung der Familien- und Hausarbeit in Partnerschaften scheint sich, trotz allen konservativen Gegenwinds, zu entwickeln. Viel ist

erreicht, viel im Werden – aber ein weiter Weg liegt noch vor uns, wenn es um eine Welt frei von Geschlechter-Diskriminierung geht.

Grund genug für double, einmal bei Künstler*innen nachzufragen, wie sie in ihren Arbeiten mit dem Thema Geschlecht umgehen. Yoko Yamaguchi berichtet von japanischen Künstlerinnen, die bestehende Gender Gaps überwinden. Annette Scheibler und Sigrun Kilger preisen die subversive Kraft des Figurentheaters. Li Kemme und Britta Tränkler sehen das grundlegende Infragestellen

ihrer Arbeit als Motor ihrer künstlerischen Schöpfungen. Auch zwei weitere Kollektive hinterfragen neben gängigen Kategorisierungen die eigenen Arbeitsstrukturen, ein weiteres arbeitet sich mit Barbies Hilfe an überkommenen Körpernormen ab. Laura Purcell-Gates und Ute Kahmann untersuchen vor ganz unterschiedlichen Hintergründen die Rezeption des Geschlechts bei Puppen und Meike Wagner kommentiert ein Panel zu „Politik, Identität, Feminismus“.

Im zweiten Teil des Heftes führt die Stippvisite nach Slowenien und in der Rubrik Nachwuchs blicken wir nach Braunschweig und Bochum, während Tagungen zu Identitätsentwürfen im Figurentheater und dem Puppentheatermuseum der Zukunft nach Bern und Dresden führen. Auch das Heftthema schlägt sich weiterhin nieder: in einer Münchner Ausstellung, Sööt/Zeyringers Performance „Angy hour“, der ASSITEJ-Werkstatt und der Publikation „Women and Puppetry“.

Figurentheater zeigt sich in diesem Heft also wieder in vielfältigsten Formen, deren Potenziale im Verhandeln binärer Kategorien und gesellschaftlicher Strukturen noch lange nicht erschöpfend erkundet sind.

„Yes, we Ken!“, finden deshalb auch Mascha Erbelding und Christina Röfer – und wünschen eine anregende Lektüre!

Inhalt

Thema

Puppe* – Figurentheater und Geschlecht

  • Mascha Erbelding
    Das „andere Geschlecht“ im „anderen Theater“
    Geschlecht und Figurentheater – Versuch einer Einführung
  • Yoko Yamaguchi
    Gender Gaps
    Ein Blick in Geschichte und Gegenwart des Japanischen Puppentheaters
  • Li Kemme und Britta Trankler
    In Frage gestellt
    Ein zweistimmiges Selbstgesprach
  • Mascha Erbelding
    Die subversive Kraft des U-Boots
    Gespräch mit Annette Scheibler und Sigrun Kilger vom Ensemble Materialtheater über feministisches Theater und Geschlechterstereotypen
  • Iris Keller, Anna Renner
    Barbie als genderkritisches Material
    Eine Stellungnahme
  • manufaktor
    Kritisches Puppenspiel
    Über die Freiheit im Uneindeutigen
  • Christina Rofer
    Auf der Suche nach all den Stimmen
    Ein Gesprach über Stimme, Geschlecht und Figurentheater in der Ausbildung an der Berliner HfS Ernst Busch
  • Laura Purcell-Gates
    Das Monster und die Puppe
    Unheimliche Geschlechterdarstellungen im Puppentheater
  • Ute Kahmann
    Wer bist du?
    Spurensuche einer Tochter in „queer papa queer“
  • Meike Wagner
    Der männliche Code
    Feministische Kritik an digitalen Reprasentationssystemen
  • Franziska Merkel, Samira Wenzel, Stefan Wenzel, Johanna Posenenske
    Ja, es war lange so. Nein, es muss nicht so bleiben.
    Das Kollektiv von „Frauen in gehobenen Positionen“ spricht über seine Arbeit
  • Carole Guidicelli
    Zwischen androgynen Metamorphosen und Tier-Werdung
    Die Compagnie La Mu/ette spielt mit Geschlechtsidentitäten

Stippvisite

  • Anke Meyer
    Showdown beim Showcase
    10. Biennale des slowenischen Puppentheaters
  • Tin Grabnar
    Unvollstandigkeit zulassen
    Potenziale moderner Technologien am Beispiel der Inszenierung „Somewhere Else“

Nachwuchs

  • Rene Reith
    Mitgenommen werden in eine andere Zeit
    Staffelübergabe in Braunschweig
  • Tim Sandweg
    Sag mir, wo ich beginnen soll
    Unsortierte Eindrucke vom Fritz-Wortelmann-Preis 2019

Festival

  • Marcus Kohlbach
    Der menschliche Korper als Seismograph gesellschaftlicher (Un-)Ordnung
    Faszinierende Buhnenexperimente auf der Imaginale 2020

Ausstellung

  • Thomas Betz
    Was Ken kann
    Eine Ausstellung in der Pasinger Fabrik in Munchen dekonstruiert die Ikone

Symposium

  • Norbert Seidel
    Immersion auserhalb der Vitrine
    Ein Kolloquium in Dresden denkt nach uber ein Puppentheatermuseum der Zukunft
  • Andre Studt
    At Odds = Uneins = Desuni
    Differenz als Chance und Impuls – Tagungseindrucke aus Bern
  • Thomas Stumpp
    Neue Bilder im geschützten Raum
    Die ASSITEJ-Werkstatt „Kindheit, Familie und Gender“ auf dem Panoptikum-Festival in Nurnberg

Inszenierung

  • Almut Wedekind
    „Anger“ heist Zorn. Wut heist „fury“ oder „rage“
    „Angry Hour“ von Soot/Zeyringer im Rahmen des Festivals „The Future Is F*e*m*a*l*e*“

Rezension

  • Christina Rofer
    Kritisch, international, personlich
    Women and Puppetry. Critical and Historical Investigations
  • Gerd Taube
    Breiter Überblick mit komplexen Einblicken
    Handbuch zum Künstlerischen Puppenspiel 1900–1945
  • Silvia Brendenal
    Eine Ungewöhnliche Begegnung
    Der Briefwechsel von Franz Fühmann mit Joachim Damm

Nachruf

  • Lars Rebehn
    Ein Streiter fur das Puppentheater
    Zum Tod von Dr. Olaf Bernstengel (13.05.1952–27.01.2020)

English Summaries   

Notizen/Festivalkalender

Impressum

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English

CONTENTS double 41:

THEME Puppet* – Puppet theatre and gender

  • Mascha Erbelding
    The “opposite sex“ in the “other theatre
    Gender and Figure Theatre – an attempt at an introduction
  • Yoko Yamaguchi
    Gender Gaps
    A look at the present and past history of Japanese puppet theatre
  • Li Kemme and Britta Trankler
    Called into question
    A two-part monologue
  • Mascha Erbelding
    The subversive power of a submarine
    An interview with Annette Scheibler and Sigrun Kilger from the Materialtheater Ensemble about feminist theatre and gender stereotypes
  • Iris Keller and Anna Renner
    Barbie as gender critical material
    A statement
  • manufaktor
    Critical Puppet Theatre
    On freedom in the ambiguous
  • Christina Rofer
    Searching for all the voices
    A conversation about voice, gender and puppet theatre in education at the acting college HfS Ernst Busch Berlin
  • Laura Purcell-Gates
    The monster and the corpse
    Puppetry and the uncanniness of gender performance
  • Ute Kahmann
    Who are you?
    A daughter looks for traces of her identity in “queer papa queer“
  • Meike Wagner
    The male code
    A feminist critique of digital representation systems
  • Franziska Merkel, Samira Wenzel, Stefan Wenzel, Johanna Posenenske
    Yes, it was that way for a long time. No, it doesn’t have to stay that way.
    The collective of “Women in Higher Positions“ talks about its work
  • Carole Guidicelli
    Between androgynous metamorphoses and turning into an animal
    The company La Mu/ette plays with gender identities

FLYING VISIT

  • Anke Meyer
    Showdown at the Showcase
    10th Biennale of Puppetry Artists of Slovenia
  • Tin Grabnar
    Allowing incompleteness
    Potentials of modern technology in “Somewhere else“

YOUNG ARTISTS

  • Rene Reith
    Taken to another time
    Handover in Brunswick
  • Tim Sandweg
    Tell me where to begin
    Unsorted impressions of the Fritz-Wortelmann-Prize 2019

FESTIVAL

  • Marcus Kohlbach
    The human body as seismograph of social (dis)order
    Fascinating stage-experiments at the Imaginale 2020

EXHIBITION

  • Thomas Betz
    What Ken can do
    An exhibition at the Pasinger Fabrik in Munich deconstructs the icon

SYMPOSIUM

  • Norbert Seidel
    Immersion outside the display case
    A colloquium in Dresden thinks about the puppet theatre museum of the future
  • Andre Studt
    At Odds ≠ Uneins ≠ Desuni.
    Difference as chance and impulse – impressions of a conference in Bern
  • Thomas Stumpp
    New images in a safe space
    The ASSITEJ-workshop „childhood, family and gender“

STAGING

  • Almut Wedekind
    “Anger“ means “Zorn“. “Wut“ means “fury“ or “rage“
    “Angry Hour“ by Soot/Zeyringer at the festival “The Future Is F*e*m*a*l*e*“

REVIEW

  • Christina Rofer
    Critical, international, personal
    Women and Puppetry. Critical and historical investigations
  • Gerd Taube
    Expanded overview with complex insights
    Compendium of artistic puppetry 1900–1945
  • Silvia Brendenal
    An exceptional encounter
    The correspondence between Franz Fühmann and Joachim Damm

ORBITUARY

  • Lars Rebehn
    A contender for puppet theatre
    Dr. Olaf Bernstengel (13.05.1952–27.01.2020)

Summary EDITORIAL
P U P P E T *
Puppet theatre and gender

Jürgen Klünder justified his provocative statement: “I therefore venture the thesis that men are better puppeteers than women”, which appeared in the magazine “Das Figurentheater” in 1989, by the inability of men to bear children. That is why they are more creative in their artistic work. This was promptly followed by a response from the artist Renate Schweizer, who called for this “onesided black-and-white view” to be finally abandoned. When Katja Spiess dedicated an issue of “Das Andere Theater” in 2002 to the question of whether there was a particular female aesthetic, the women questioned were already referring to their artistic autonomy, regardless of their gender.

Much has been achieved, much is in the making – but there is still a long way to go when it comes to a world free of gender discrimination.

Reason enough for double to ask artists how they deal with the topic of gender in their work today. Japanese artists overcome gender gaps; collectives question bodily norms, social power structures and their own working methods; and the question of the reception of gender in puppets is examined.