double #39

Gewalt spielen

Heft 1/2019

Stippvisite: Litauen
Politik: Produktionsförderung / Gipfelkonferenz der Kinder


Editorial

Gewaltdarstellung im Theater ist ein ambivalentes Feld. Scheint sie einerseits in einer künstlerischen Form, die im Spiel über dieWelt nachdenkt, probates Mittel der Reflexion, Aufklärung oder Analyse, gerät sie andererseits schnell in die Falle der Ästhetisierung oder Profanisierung und muss sich den Vorwurf der Verharmlosung gefallen lassen. Auf den Bühnen des Figurentheaters begegnet sie uns in unterschiedlichsten Formen, denen wir uns im Thementeil dieser Ausgabe von double aus zwei Perspektiven genähert haben: Einerseits haben wir Theaterschaffende gefragt, warum sie Gewaltdarstellungen einsetzen und welche ästhetischen Strategien sie dabei verfolgen. Zum anderen interessierte uns die rezeptionsästhetische Blickrichtung: Warum schauen sich Menschen Gewalt an, mitunter sogar gerne? Wo entsteht ein ästhetischer Genuss? Und warum wird die Gewalt an Material von den Zuschauer*innen oftmals viel intensiver wahrgenommen als im Theater mit menschlichen Körpern? Von Künstler*innen, die sich mit traditionellen Formen des Kaspertheaters beschäftigen oder die Drastik des Théâtre Grand Guignol in Splatterästhetik übersetzen, über monsterhafte Umkreisungen oder größtmögliche Stilisierung bis hin zu performativen Reaktionen auf alltägliche Gewalt in Israel reichen die versammelten Positionen. Auch wenn sie in ihren Ansätzen sehr divers sind, spielt das dem Figurentheater immanente Verhältnis von Nähe und Distanz immer eine besondere Rolle – wie der Theaterwissenschaftler André Studt in seinem einleitenden Essay ausführt. Nähe und Distanz sind aber auch in der Konstituierung von Zuschauerschaft in realen Gewaltszenarien entscheidend: In Guantánamo Bay und den US-amerikanischen Geheimgefängnissen, wie der Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe in seinem Beitrag analysiert.

Im zweiten Teil des Heftes reisen unsere Autor*innen durch die Lande und laden zu einer Stippvisite nach Litauen ein, kämpfen sich durch den Förderdschungel der Freien Figurentheaterszene in der Bundesrepublik und wohnen einer internationalen, künstlerisch-partizipativen Konferenz bei. Außerdem sind sie zu Gast bei Festivals in Berlin und besprechen Inszenierungen, die, dort und anderswo, aus dem Rückblick in die (persönliche) Vergangenheit den Bogen in die (gesellschaftliche) Zukunft schlagen. Gewohnt vielseitig beleuchtet auch diese double-Ausgabe also wieder die Diskurse der Szene über das Verhältnis von Mensch und Ding, das sich oft als nicht so harmlos entpuppt, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag.

Christina Röfer und Tim Sandweg

Inhalt

Thema
Gewalt spielen

  • Zwischen Fiktion und Realität
    Vorsichtige Überlegungen zur szenischen Verhandlung von Gewalt
    Andre Studt
  • Distanz, Abstraktion, Verletzbarkeit
    Leonhard Schubert zu Darstellung und Darstellbarkeit von Gewalt
  • Kasperli im Blutrausch
    Das Splätterlitheater aus Luzern
    Franziska Burger
  • „Das Monster ist ein Enthüller“
    Ein Gesprach mit der französischen Figurenspielerin Violaine Fimbel
  • „Play to the Camera
    Konstellationen von Gewalt und Publikum im „global war on terror“
    Sebastian Köthe
  • Balanceakte
    „23 thoughts about conflict“ von Worst Case Scenario
    Christina Röfer
  • Den Tod totschlagen
    Der Puppenspieler Lutz Großmann im Gespräch

Stippvisite

  • Materia Magica LT
    Eine facettenreiche Schau litauischen Puppentheaters
    Anke Meyer
  • Psyche und Silikon
    Ein Interview über die Arbeit des Psilicone Theatre
  • Vom Gefühl zum Bild
    „Stone Water Sting“ vom Theatre of Senses. Ein Erfahrungsbericht
    Sabine Leucht

Politik

  • Tarzans und Janes im Förderdschungel
    Dimensionen und Defizite der Produktionsforderung
    Tom Mustroph
  • Gesellschaft verhandeln
    Das Papiertheater Nurnberg lud weltweit ein zur „Gipfelkonferenz der Kinder“
    Julia Opitz

Festival

  • Von der Zärtlichkeit vergessener Puppen
    Das internationale Festival Theater der Dinge an der Schaubude Berlin
    Katja Kollmann

Jubeln

  • Eine Abfolge lustvoller Störattacken
    25 Jahre Unidram in Potsdam
    Almut Wedekind

Reflexion

  • (Post-)heroische Gesellschaft
    „Rettet die Sockel! – Save the Pedestals!“ am Puppentheater Halle
    Harald Bluhm

Inszenierung

  • Menschsein – eine Frage der richtigen Technik!?
    Rimini Protokoll und Thomas Melle erkunden das „Uncanny Valley“
    Annika Gloystein

Ausstellung

  • Die Schichten der eigenen Kunst offenbaren
    Die Ausstellung „Wunder.Kammer“ im Munchner Stadtmuseum
    Meike Wagner

Symposium

  • Miteinander tanzen
    Eindrucke vom Symposium „Tanz der Dinge/Things that dance“ in Karlsruhe
    Mareike Gaubitz

Nachruf

  • Eine Epoche geht zu Ende
    Margareta Niculescu (1926–2018)
    von Annette Dabs

English Summaries

Notizen & Festivalkalender

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English

Summary
Playing Violence

In this issue of double we approach the depictions of violence in puppet theatre shows from two perspectives: On the one hand, we asked theatre professionals why they use depictions of violence and what aesthetic strategies they pursue in doing so. On the other hand, we were interested in the receptive aesthetic perspective: why do people watch violence, and even take pleasure in doing so at times? Where does the aesthetic pleasure emerge? And why is violence against material objects often felt much more intensively by the audience than in a show featuring human bodies? The positions collected range from artists who work with traditional forms of “Kasper” shows, or who translate the drastic elements of Grand Guignol Theatre into splatter aesthetics, to monstrous encirclements and the highest possible stylisation, all the way to performative reactions to everyday violence in Israel. They are complemented by two essays: the theatre scholar André Studt approaches the theme of „playing violence“ in a mental context, and the cultural scientist Sebastian Köthe analyses the constituent nature of spectators in real violent scenarios in Guantánamo Bay.

Contents
double 39

Editorialtheme:
Playing Violence

  • Andre Studt
    Between Fiction and Reality.
    Cautious Considerations on Scenic Dealings with Violence
  • Distance, Abstraction, Vulnerability.
    Leonhard Schubert on the representation and representability of violence
  • Franziska Burger
    Kasperli in a blood frenzy. The Splatterlitheater from Lucerne
  • “The Monster is a Revealer.”
    A conversation with the French puppeteer Violaine Fimbel
  • Sebastian Kothe
    “Play to the Camera.” Constellations of violence and the audience in the global war on terror
  • Christina Rofer
    Balancing Act.
    “23 thoughts about conflict” by Worst Case Scenario
  • Killing Death.
    The puppeteer Lutz Grosmann in conversation

Flying Visit

  • Anke Meyer
    Materia Magica LT. A multifaceted showcase of Lithuanian puppet theatre
  • Psyche and Silicone.
    An interview on the work of the Psilicone Theatre
  • Sabine Leucht
    From Feelings to Images.
    “Stone Water Sting“ by the Theatre of Senses. A field report

Policies

  • Tom Mustroph
    Tarzans and Janes in the funding jungle.
    The dimensions and deficits of production support
  • Julia Opitz
    Negotiating society.
    The Nuremberg Papiertheater invited children from all over the world to the “Children‘s Summit“

Festival

  • Katja Kollmann
    On the Tenderness of Forgotten Puppets.
    The international festival Theater der Dinge at Schaubude Berlin

Celebrations

  • Almut Wedekind
    “A Succession of Pleasant Disturbing Attacks.“
    25 years of Unidram in Potsdam

Reflexion

  • Harald Bluhm
    (Post-)Heroic Society.
    “Save the pedestals!“ at the Puppentheater Halle

Staging

  • Annika Gloystein
    Being human – a question of the right technology?
    Rimini Protokoll and Thomas Melle explore the “Uncanny Valley“

Exhibition

  • Meike Wagner
    Revealing the layers of one‘s own art.
    The “Wunder.Kammer“ exhibition in the Munich City Museum

Symposium

  • Mareike Gaubitz
    Dancing with one another.
    Impressions from the symposium “Things that dance“ in Karlsruhe

Obituary

  • Annette Dabs
    An epoch comes to an end.
    Margareta Niculescu (1926–2018)

English Summaries

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