double #33

Wie hast du´s mit der Religion?
Das spirituelle Potenzial der Puppe

Heft 1/2016

Festivals: Sankt Petersburg, Baden-Württemberg
Stippvisite: Indonesien


Editorial

„Wie hast du’s mit der Religion?“, fragt Gretchen den sich aufgeklärt und säkularisiert gebenden Mitteleuropäer. Dessen Welt steht am Beginn des dritten Jahrtausends religiösen Empfindungen auf der einen Seite skeptisch gegenüber, lässt sie nur noch im ironischen Spiel oder in der atheistischen Analyse zu, während auf der anderen Seite ein deutliches Erstarken in der Suche nach spirituellen Erfahrungen zu bemerken ist, genauso wie im politischen Kontext die Konfrontation mit religiös motivierten Handlungen zunimmt. Religion – das ist (wieder) ein Thema. Darüber, inwiefern die Entwicklung von Puppentheater mit religiösen Kulten zusammenhängt, lässt sich streiten. In jedem Fall scheint die Puppe als animiertes Objekt ein spirituelles Potenzial zu besitzen. Sie schaffte es sogar, die Kirche gegen sich aufzubringen, wie im Falle der mechanischen Figuren von Francisco Sanz Baldoví im Spanien der 1910er Jahre. Sie trägt kulturelle Spuren von Glaubenskriegen in sich, die trotz aller Versuche der Umdeutung angesichts der aktuellen Lage in Syrien und dem Irak deutlich hervor scheinen. Ihr sind religiöse Symbole immanent, wie im zeitgenössischen Figurentheater im Iran, und sie widersetzt sich doch klaren politischen Zuweisungen. Nicht zuletzt inspiriert sie Figurentheaterschaffende zur ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Glauben – ganz persönlich wie in der Bachelor-Inszenierung „Refugium der Zeit“ von Eike Schmidt oder eher als Reflexionsraum wie in Svetlana Fourers Adaption des Romans „Hiob“. Auch in Indonesien gibt es diese starke historische Verbindung von Puppenspiel und Religion. Zeitgenössische Puppenspieler, wie die des post-traditionellen Wayangs oder das Papermoon Puppet Theatre, suchen nach neuen Wegen, denen double in seiner Stippvisite nachgeht. Weitere Artikel im zweiten Heftteil führen nach Barcelona und Sankt Petersburg, verbinden das Maskentheater mit dem Phänomen der Gesichtsflucht und geben Einblicke in aktuelle Entwicklungen des Figurentheaters im deutschsprachigen Raum.

Inspirierende Lektüre wünschen Tim Sandweg und die Redaktion.

Inhalt

THEMA
Wie hast du´s mit der Religion? Das spirituelle Potenzial der Puppe

  • Über die Schwelle, in die Welt hinein
    Das spirituelle Potenzial der Performance
    von Kim Skjoldager-Nielsen
  • Glaube, Angst und Hoffnung
    Ein Gespräch mit der Regisseurin Svetlana Fourer
    von Svetlana Fourer
  • Wenn Kasper die Gretchenfrage stellt
    Plädoyer für einen närrischen Gott
    von Astrid Griesbach
  • Puppenspiel und Kult
    Anmerkungen zu einer der frühesten Theaterformen
    von Lars Rebehn
  • Gottes Mechaniker
    Die Puppen des Francisco Sanz Baldoví
    von Theresa Eisele
  • Spiegel und Augen
    Politik und Spiritualität im iranischen Figurentheater
    von Anne-Kathrin Klatt und Shiva Massoudi
  • Christen vs. Sarazenen
    Religiös überformte Schädelspaltereien im traditionellen sizilianischen Puppentheater
    von Tom Mustroph
  • Refugium der Zeit
    Bachelorprojekt im sakralem Raum
    von Ricarda Geib

Stippvisite: Indonesien

  • Traditionell und post-traditionell
    Schattentheater im heutigen Java
    von Matthew Issac Cohen
  • Die deutsch-indonesische Koproduktion „Senlima“
    Ein Erfahrungsbericht
    von Susanna Poldauf

ENSAYO EN ESPAÑOL

  • Objeto y Catástrofe
    Planteamientos y preguntas para un teatro de objetos documental
    von Shaday Larios

Ausstellung

  • Figuren der Verdoppelung
    Eine Ausstellung mit Puppen, Maschinen und Fäden in Barcelona
    von Rebecca Simpson

Politik

  • Don Cristóbal im Gefängnis
    Anmerkungen zu einem Vorfall in Spanien
    von Adolfo Ayuso
  • Rettung durch Ausgliedern
    Zwickau will sein Puppentheater vor dem Aus retten – was Probleme bringt
    von Tobias Prüwer

Festival

  • Russian case
    Festival des zeitgenössischen russischen Puppentheaters in Sankt Petersburg
    von Silvia Brendenal
  • Zwischenräume
    Die Imaginale 2016 in Baden-Württemberg
    von Julia Feigl

Portrait

  • Theater aus der Zukunft
    Hajusom im Portrait
    von Christina Röfer

Jubeln

  • Verschieden sein macht Freu(n)de
    Thalias Kompagnons präsentieren mit „Rabenschwarz und Naseweiß“ eine Jubiläums-Premiere
    von Anke Meyer

Inszenierungen

  • Der perfekte Mensch
    „Frankenstein“ von gold extra in Koproduktion mit ARGEkultur
    von Michael Isenberg
  • Alles lebt
    „3 Akte – Das stumme Lied vom Eigensinn“ von Antje Töpfer
    von Franziska Reif

Reflexionen

  • Gesichtsflucht und Maskenleben
    Zum Verhältnis von Gesichtstheorie, Gesichtsflucht und Maskenspiel
    von Beate Absalon und Sebastian Köthe

Nachruf

  • Skeptischer Optimist
    Henryk Jurkowski (1927–2016)
    von Hartmut Topf

Notizen & Festivalkalender

Übersetzung

OBJEKT UND KATASTROPHE

Überlegungen zu und Fragen an ein dokumentarisches Objekttheater

von Shaday Larios

Der vorliegende Artikel stellt eine Synthese von Hypothesen und Prämissen dar, die ich aus einem über mehrere Jahre theoretisch wie praktisch in künstlerischer Arbeit und Lehre verfolgten und erforschten Ansatz des Objekttheaters gezogen habe. Dieser bezieht sich auf die Untersuchung des szenisch-dokumentarischen Potenzials, das ein von einem wahrhaft katastrophalen Ereignis gebrandmarkter Alltagsgegenstand aufweisen kann.[1] Katastrophen besitzen im Sinne der Etymologie des Begriffs eine inhärente Beweglichkeit („herab stürzen, herunter purzeln, hinab taumeln“), eine Kraft, die die Ordnung eines Normalzustands beschädigt, wodurch die übliche Beziehung zwischen Subjekt und Alltagsgegenstand eine Verletzung, eine Metamorphose erleidet.[2]

Ausgehend von seiner „Katastrophentheorie“ (1950) formulierte der französische Mathematiker René Thom eine Definition für Verhaltensweisen, die nicht einem Ordnungssystem gehorchen: „Eine Katastrophe ist jeder diskontinuierliche Übergang, der dann eintritt, wenn ein System entweder mehr einem festen Zustand zuneigt oder eher einem ständigen Wechselkurs folgt.“[3] In diesem Sinne wohnt den Alltagsgegenständen im Umfeld einer Katastrophe eine besondere Diskontinuität hinsichtlich ihrer ursprünglich merkantilen und funktionalen Bestimmung inne; aufgrund dieser Umwidmung verleiht ein Subjekt oder eine Gemeinschaft dem Gegenstand andere Identitäten und Symbole.

Es ist ein Unterschied, ob man von Objekt und Katastrophe in der Gegenwart spricht oder ob man dabei von einem weit zurückliegenden Ereignis ausgeht. Das Objekt während der Katastrophe und das Objekt nach der Katastrophe unterscheiden sich durch die Dauer der gelebten Zeit; die kulturelle Biografie des Objektes wird (neben weiteren damit verknüpften Implikationen) besetzt und geprägt von unterschiedlichen ethischen Normen, je nachdem, ob es sich „darin befindet“ oder „hindurch gegangen“ ist. Zwar ist es nicht dasselbe, ob man die Eigenschaften des Objekts untersucht auf dem Scheitelpunkt einer Familientragödie, im Schoß der Vernichtung eines Stadtteils oder einer öffentlichen Einrichtung, im Inneren einer an zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch einen korrupten Staat leidenden Gesellschaft oder im Gedenken an die menschlichen und und materiellen Verluste durch eine riesige Naturkatastrophe oder ähnliches, dennoch könnte man sagen, jedes Objekt sei in den vielfachen Abstufungen der Katastrophe einer komplexen Phänomenologie des Todes ausgesetzt, durch die von dem Ereignis herrührenden Nachwirkungen und sein Ausbleiben als Problem. In welchen Zustand gerät ein Objekt während und nach der Katastrophe, welche Ereignisse, welche subjektiven Verschiebungen wirken auf dieses materielle Fragment ein, das dem jeweiligen Zusammenbruch menschlicher Stabilität standhält?

Durch die Diskontinuität einer Katastrophe gewinnt das Objekt vor allem den Charakter eines “Überlebenden”, eben weil es sich, im Gegensatz zu dem verletzten Leben der Individuen, bewahrt hat. Das Objekt überwindet somit die Sterblichkeit. Auf diese Weise erlernt es, eine ergänzende Vitalität zu durchlaufen, die ihm seine ursprünglichen Eigenschaften abnimmt und ihm zu etwas Zugang verschafft, was ich einen “dritten poetischen Raum” nennen will, eine Zone der Vermischung mit den von dem Ereignis betroffenen Subjekten, wo sich substituierende Operationen eröffnen, sensible Übergänge und Beschwörungen, die die Hierarchien zwischen dem Belebten und dem Leblosen aufweichen. Die emotionale Betroffenheit, die ein Trümmerstück, die Hinterlassenschaften und vielfältig anrührenden Überreste der Verschwundenen auslösen, legt eine psychische Animation des Gegenständlichen nahe, zwingt aber keineswegs, so zu tun, als ob dieses Fragment lebendig wäre, wie es einige Objekttheaterkünstler praktizieren. Das Überlebens-Objekt als solches ist von sich aus lebendigt, ist bereits ein dramatisches Objekt, bekleidet mit einer Bedeutungsdimension, die ihm die Diskontinuität der Katastrophe verleiht.

Ausgehend von diesen Grundprämissen (der des “Durchlaufens einer ergänzenden Vitalität” und der des “dritten poetischen Raums”) lassen sich Fragen nach den Prinzipien eines möglichen dokumentarischen Objekttheaters stellen, in diesem Fall assoziiert mit dem Umfeld einer Katastrophe. Angenommen, einer der zentralen, die Experimente im Objekttheater vertiefenden Aspekte sei eben genau “der dritte poetische Raum”, der in die Subjekt-Objekt-Erforschung hinein führt, auf welche Weise ließe sich dieser Zusammenhang erweitern, wie könnte er Erkenntnisse liefern, zum Werkzeug werden, um Verbindungen zwischen einer Gemeinschaft und ihrem Objektcharakter herzustellen, oder wie könnte er wie ein Künstler jene Linien innerer Verknüpfung bloßlegen und verschmelzen zu einem ästhetischen Dispositiv, das auf andere Weise den Schmerz vermittelt? In der Absicht, die Fragen und das Spektrum der Möglichkeiten zu erweitern, insbesondere wenn man daran denkt, die Qualitäten des Objekttheaters in andere Bereiche zu übertragen, halte ich es für wichtig, sich von der Vorstellung, es käme bei der Animation der Objekte auf die Virtuosität des Handwerks an, sozusagen von der herausfordernden Erblast des Marionettentheaters, frei zu machen.

Bedeutsam erscheint mir dabei, die wesentlichen Phasen in einem künstlerischen Prozess, der sich dieser szenischen Methode verschreibt, wie geliehene Mechanismen einzusetzen, beispielsweise: 1.) den Blick, der die Verzögerung gegenüber einem Objekt vorschlägt, das sich durch diese analytisch peinliche Genauigkeit in einen Protagonisten verwandelt; 2.) die psychophysischen Attribute, die der Spieler mit ihm und durch ihn (“der dritte poetische Raum”) konstruiert und in sich selbst erkennt, mit ihm und durch ihn. In diesem Bereich des Ausprobierens neigen die organisatorischen Strömungen zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen dazu, egalitäre und zwiespältige Haltungen zu erzeugen und über den Sinn von Unterwerfung zwischen den Zuständen zu streiten (Wer animiert Wen?). Die Prämisse sollte sein, jene Mittel, so sie sich erweitern lassen, im Rahmen einer Feldforschung in die Praxis umzusetzen und/oder zu ergründen, wie sie sich in den gewachsenen sozialen Netzwerken zwischen Subjekten und Objekten im Inneren von Konfliktzonen entwickeln, um so Erfahrungen zu gewinnen und sie in ein partizipatives szenisches Projekt einzubinden.

Objekte mit realen Erzählungen, komplex aufbereitet in einem dokumentarischen Objekttheater, sind der Ausgangspunkt, um ein szenisches Geflecht zu entwerfen, das die mikrosoziologischen Feinheiten aufzudecken hilft, die jeweils im Umkreis der materiellen Kultur des Schmerzes erwachsen. Dieses Theater könnte nicht nur historische Fakten aus einem toten Blickwinkel beibringen, vielmehr könnte es als Mechanismus wirken, um andere affektive kommunitarische Bewegungen in Gang zu setzen und zwar über das im Gefolge eines katastrophalen Ereignisses aus der Alltäglichkeit entbundene Objekt. Aus diesen intersubjektiven Verfahrensweisen sollte sich eine Art Observatorium konstituieren, das neue Überlegungen registriert, um von dort aus die Natur dieser Praxisform immer besser zu verstehen.

Aus dem Spanischen von Hedda Kage

[1] Zurzeit befinde ich mich im Prozess der künstlerischen Erforschung des dokumentarischen und komunitarischen Objekttheaters, aus dem verschiedene im vorliegenden Text dargelegte Überlegungen entwickelt wurden: Einerseits gemeinsam mit den Spaniern Xavi Bobés und Jomi Oligor im Projekt „El Solar del Estraperlo“, andererseits mit „La máquina de la soledad“, einem Projekt meiner Compagnie Oligor y Microscopía, das dem Objekt „Brief“ als Dokument von Lebensgeschichten nachgeht.

[2] Nachfolgend verwende ich den Terminus “Katastrophe” auch mit Bezug auf Situationen, die nicht unbedingt massive Beschädigungen sondern auch Tragödien von geringerem Ausmaß darstellen.

[3] siehe Shaday Larios, Escenarios post-catástrofe: Filosofía Escénica del Desastre [Premio Internacional de Ensayo Teatral 2010 Artez-Paso de Gato-Citru] In: Paso de Gato, Cuadernos de Ensayo Teatral No. 19, México 2010, Seite 4.

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English

SUMMARY

What role does religion play today? On the one hand secular sceptics only talk about it ironically and on the other hand there are many discussions on the return of religion: this edition of double asks what spiritual potential is possessed by an animated puppet. The articles explore the cultural traces of puppeteering that contain religious moments, examine the connection between religion and politics in the theatre, and ask how contemporary puppeteers deal with the theme of religious faith, either personally or intellectually.

double 33 Contents

EDITORIAL

THEME
What’s your attitude towards religion? The spiritual potential of puppets

  • Kim Skjoldager-Nilson
    Over the Threshold and into the World The spiritual potential of performance
  • Faith, Fear and Hope
    A conversation with the director Svetlana Fourer
  • Astrid Griesbach
    When Kasper asked the crucial question A plea for a crazy God
  • Lars Rebehn
    Puppetry and cultish forms of theatre Remarks on one of the earliest theatre forms
  • Theresa Eisele
    God’s Mechanic The puppets of Francisco Sanz Baldoví
  • Anne-Kathrin Klatt & Shiva Massoudi
    Mirror and eyes Politics and spirituality in Iranian figure theatre
  • Tom Mustroph
    Christians v. Saracens Religiously remodelled skull-splitting in traditional Sicilian puppet theatre
  • Ricarda Geib
    Time’s Refuge a BA project in a sacred space

WHISTLESTOP: INDONESIA

  • Matthew Cohen
    Traditional and post-traditional Shadow theatre in Java today
  • Susanna Poldauf
    The German/Indonesian coproduction “Senlima” A report

ENSAYO EN ESPANOL

  • Shaday Larios
    Objecto y Catástrofe Planteamientos y preguntas para un teatro de objetos documental

EXHIBITION

  • Rebecca Simpson
    Figures of Duplication An exhibition with puppets, machines and threads in Barcelona

POLITICS

  • Adolfo Ayuso
    Don Cristobál in Prison Notes on an incident in Spain
  • Tobias Prüwer
    Rescued by outsourcing Zwickau fights to prevent its puppet theatre from being closed – and the problems involved

FESTIVAL

  • Silvia Brendenal
    Russian case A festival of contemporary Russian puppet theatre in Saint Petersburg
  • Julia Feigl
    Spaces The “Imaginale 2016” in Baden-Württemberg

PORTRAIT

  • Christina Röfer
    Theatre from the Future Hajusom in portrait

CHEERS

  • Anke Meyer
    Friendly opposites Thalias Kompagnons present their jubilee premiere “Ravenblack and Nosewhite”

PRODUCTIONS

  • Michael Isenberg
    The perfect person “Frankenstein” by gold extra in coproduction with ARGEkultur
  • Franziska Reif
    Everything lives “3 acts – The Silent Song of Obstinacy” by Antje Töpfer

REFLECTIONS

  • Sebastian Koethe & Beate Absalon
    Face flight and mask life The relationship between face theory, face flight and mask play

OBITUARY

  • Hartmut Topf
    A sceptic optimist Henryk Jurkowski (1927-2016)

NOTES & FESTIVAL CALENDAR