double #27

Überforderung(s)Kunst.
Figurentheater zwischen Grenzerfahrung und Erschöpfung

Heft 1/2013

Inszenierungen: Berlin, Dresden, Leipzig
Stippvisite: Burkina Faso


Editorial

Es ist weit nach Redaktionsschluss, die ersten Daten hätten bereits gestern beim Grafiker sein müssen, dabei fehlen immer noch Texte, von Bildern gar nicht zu reden. Derweil klingelt ständig das Telefon und ein Pop-Up-Fenster signalisiert neue E-Mails. Die Redaktion der Texte findet zwischen zwei Terminen statt oder es wird wieder spät am Abend. „Überforderung“ ist ein Modethema, kein Lifestyle-Magazin scheint ohne die Burnout-Debatte auszukommen und berichtet von viel zu viel Arbeit und viel zu wenig Zeit. Kein Wunder also, dass fast jeder, der im Theaterbereich arbeitet, auch etwas zum Thema sagen kann. Wir haben Figurenspieler, Theatergänger und einen Experten für Burnout nach ihren Erfahrungen gefragt und ein breites Spektrum in der alltäglichen Praxis gefunden: Kurze Probenzeiten, lange Vorstellungsdauer, zu viele Reize und die Herausforderungen, die einem im Kindertheater oder in der länderübergreifenden Theaterarbeit begegnen.

Überhaupt ist es die schmale Grenze zwischen Heraus- und Überforderung, mit der man in der Theaterwelt ständig konfrontiert ist. Heiner Goebbels, Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen und Intendant der Ruhrtriennale, spricht mit Anke Meyer über Herausforderungen an das Publikum, die Freiheit der eigenen Entdeckung und die Notwendigkeit von Fremdheitserfahrungen im zeitgenössischen Objekttheater.

Selten nah sind sich in der Überforderung die freie Szene und das Stadttheater. Katja Spiess diskutiert mit dem Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste Günter Jeschonnek über prekäre Arbeitssituationen, den immerwährenden Produktionsdruck und fehlende Spielmöglichkeiten, während Michael Isenberg am Theater Naumburg die Zwänge und Freiheiten des Stadttheatersystems, die Kreativität auf eine besondere Probe stellen, erforscht.

Überforderung als stetigem Begleiter künstlerischer Prozesse und als ästhetischem Phänomen im Figurentheater widmen sich zwei weitere Beiträge: Die Puppenspielerin und Regisseurin Sandy Schwermer, die sich gerade im Produktionsprozess befindet, beschreibt, wie sie und ihr Team mit inhaltlicher und methodischer Überforderung produktiv umzugehen versuchen. Mit einer theoretischen Reflexion geht der französische Figurentheatermacher Renaud Herbin das Thema an: Aus der Beschreibung des grenzüberschreitenden Zusammenspiels von menschlichem und künstlichem Körper entwickelt er ein Bild von Figurentheater als Überforderungskunst.

Im zweiten Teil des Heftes führt uns eine Stippvisite nach Westafrika. Die Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Annette Bühler-Dietrich blickt gemeinsam mit Kollegen aus Burkina Faso auf die Puppentheaterszene des Landes und berichtet von der letztjährigen Ausgabe des Festivals FITMO/FAB in der Hauptstadt Ouagadougou. Auch in den Clips der Internetplattform YouTube finden sich figurentheatrale Erzählformen: Anna Teuwen klickt sich durch Tim Etchells´ Shakespeare-Objekt-Erzähl-Projekt „Be stone no more“ und Tim Sandweg begibt sich auf eine Reise durch die Clips der syrischen Opposition, bei denen Handpuppen eine wesentliche Rolle spielen. Mit Rezensionen neuer Inszenierungen und Festivalberichten sowie einem Blick auf die neue FigurenSpielSammlung in Magdeburg betrachten wir schließlich Entwicklungen des Puppentheaters in Deutschland.

Das Editorial ist fast fertig, auf dem Handy ist eine Nachricht vom Grafiker, der sich fragt, wo die Daten bleiben, das Hebbel am Ufer hat sich immer noch nicht auf die Fotoanfrage gemeldet. Also schnell die Jacke gegriffen, um selbst das Finanzamt in Reinickendorf zu fotografieren… Eine störungsfreie Lektüre wünscht die Redaktion.

Inhalt

Thema

  • Die Verweigerung des Spiegels
    Ein Gespräch mit Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale 2012–2014, über Kunst-Erfahrung
    von Heiner Goebbels und Anke Meyer
  • Das große Ü
    Ein Ausflug in den Produktionsalltag
    von Sandy Schwermer
  • Statement: Information Overload
    von Markus Väth
  • Statement: Ich würd´s nie wieder machen
    von Freda Winter
  • Statement: Widerstandsleistungen und Wahrnehmungslücken
    von Tom Mustroph
  • Statement: Von der Perforation des Horizonts
    von Stefanie Oberhoff
  • Statement: Ran an die Realität
    von Annette Scheibler
  • Gemeinsame Grenzüberschreitung
    Figurentheater als Überforderungskunst
    von Renaud Herbin
  • Nur keine Leere aufkommen lassen
    Ein Portrait des Theater Naumburg
    von Michael Isenberg
  • Im Durchlauferhitzer
    Ein Gespräch mit Günter Jeschonnek über die Überforderungssymptomatik in der freien Theaterlandschaft
    von Katja Spiess

Stippvisite: Burkina Faso

  • Ohne gesellschaftlichen Auftrag geht es nicht
    Puppentheater in Burkina Faso
    von Noufou Badou und Annette Bühler-Dietrich
  • Zwischen Ritus, Ästhetik und Pädagogik
    Burkinisches Figurentheater in historischer Perspektive
    von Hamadou Mandé
  • Nicht nur für Schauspieler
    Puppentheater bei FITMO/FAB 2012
    von Annette Bühler-Dietrich

Inszenierungen

  • Ein sonniger Morgen in der Unterwelt
    Monteverdis „Orpheus“ an der Komischen Oper Berlin
    von Anke Meyer
  • Im Klammergriff des Paten
    Der Puppet-Action-Thriller „City of Fear“ der Berliner Retrofuturisten
    von Tim Tonndorf
  • Blockbuster Faust
    „Die Geschichte von Dr. Faust” – Eine Koproduktion des TJG Dresden und des Schauspiel Franfurt
    von Tobias Prüwer
  • Wunderbare Parabel über der Welt des Theaters
    „Das Mädchen im Löwenkäfig“ vom Ensemble Materialtheater
    von Manfred Jahnke
  • ERROR
    „Depot für geniale Irrtümer“ des Ingenieurtheaters AKHE
    von Tim Sandweg
  • Unterhaltungskunst
    „Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär“ in einer Inszenierung von Thalias Kompagnons
    von Christian Bollow

Ausblick

  • On and Off
    Eine YouTube-Reise durch die syrische Opposition
    von Tim Sandweg
  • Sei nicht mehr Salzstreuer
    Tim Etchells macht Tischplatten-Shakespeare
    von Anna Teuwen

Festival

  • Einfach erleben
    Das Festival „Theater 2+“ in der SCHAUBUDE BERLIN
    von Barbara Fuchs
  • Was tue ich hier?
    Eindrücke vom Internationalen Theaterfestival UNIDRAM 2012 in Potsdam
    von Anke Meyer und Katja Spiess

Sammlung

  • Theatermacher machen Museum
    Die FigurenSpielSammlung Mitteldeutschland und das Puppentheater Magdeburg
    von Meike Wagner

Buchbesprechung

  • Auf der Grenze zwischen Wahrheit und Schein
    Andreas Regelbergers Studie zu Bunraku eröffnet neue Quellen
    A. Regelsberger: Fragmente einer Poetologie von Puppe und Stimme. Ästhetisches Schrifttum aus dem Umfeld des Puppentheaters im edozeitlichen Japan. Iudicium Verlag, München 2011
    von Manfred Wegner

Nachruf

  • Trauer um Yves Baudin
    von Gerd Engel

Notizen & Festivalkalender

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English

People in the theatre world are constantly confronted with a thin line between everyday challenges and excessive demands. double has talked to puppeteers, theatre-goers and an expert on burnout about their experiences. When it comes to excessive demands the fringe scene and conventional theatre are unusually similar. The head of the “Fonds Darstellende Künste” Günter Jeschonnek talks about precarious working situations, the continuous pressures of production and the lack of performing opportunities, whilst Michael Isenberg takes a look at the constraints and the freedom of the municipal theatre system at the Naumburg Theatre.

Three other articles are devoted to excessive demands as a constant factor and an aesthetic phenomenon in artistic processes. Heiner Goebbels, Artistic Director of the Ruhrtriennale festival, talks about challenging the audience and the freedom to make ones own discoveries. The puppeteer and director Sandy Schwermer describes how she and her team try to deal productively with excessive demands during rehearsals, whilst the French puppet maker Renaud Herbin examines the “excessive demand potential” in the complex relationship between the human and the artificial body.